cash.ch: Die US-Börsen sind trotz hoher Bewertungen eher überraschend mit Kursgewinnen ins neue Jahr gestartet. Wieso?
Christian Müller-Glissmann: Aussagen zu kurzfristigen Marktbewegungen sind immer schwierig, aber bereits im letzten Dezember war die Stimmung unter den Investoren sehr euphorisch. Hier spielte mehr Optimismus bezüglich der US-Wirtschaft eine wichtige Rolle. Wir waren grundsätzlich zuversichtlich und sind das immer noch für 2025. Der Makro-Ausblick ist gut, das Weltwirtschaftswachstum relativ gesund und die Inflation sollte unserer Meinung nach weiter sinken. Damit können die Zentralbanken die Leitzinsen weiter senken. Aber es stimmt, die Bewertungen vor allem am US-Aktienmarkt sind ein Thema. Die Aktienbewertungen sind sehr stark gestiegen im letzten Jahr. Es wäre deshalb ungewöhnlich, wenn wir in diesem Jahr eine ähnlich starke Performance der US-Börsenindizes sehen wie 2024.
Trump mit seinen Zoll-Androhung hat bisher keinen 'Schaden' an der Börse angerichtet?
Tatsächlich war in den Tagen um die Amtseinführung des Präsidenten die Stimmung unter den Investoren wieder ein wenig pessimistischer. Da Präsident Trump am Inaugurationstag aber wenig negative Beschlüsse gefasst hat, wurde der Markt eher positiv überrascht.
Sie haben die hohe Bewertung der US-Aktienmärkte angesprochen. Wie problematisch sind die?
Die Bewertungen sind hoch. Sie sind auch auf einem hohen Niveau relativ zum Rest der Welt und auch relativ zur eigenen Historie. Ein Grossteil dieser höheren Bewertungen kann mit der extrem hohen Profitabilität der amerikanischen Large Cap Technologiewerten erklärt werden, insbesondere basierend auf der Eigenkapitalrendite. Deswegen ist seit 1990 der faire Wert des S&P 500 Index, basierend auf den strukturellen Makro-Konditionen, das Shiller-Kurs-/Gewinn-Verhältnis von 15x auf 30x angestiegen. Dementsprechend kann man argumentieren, dass die hohen Bewertungen in den USA zum Teil strukturell getrieben sind und vielleicht nicht so besorgniserregend sind wie angenommen.
Sind die hohen Bewertungen für langfristige Investoren eine Herausforderung?
Die Gewinnmargen der US-Unternehmen sind sehr hoch und wir sind etwas spät im Wirtschaftszyklus. Entsprechend sollten die erwarteten Risikoprämien für langfristige Anleger tatsächlich niedriger sein. Man darf im Moment einfach nicht vergessen, dass wir während der letzten zwei Jahre eine perfekte Wirtschaftsentwicklung hatten. Im Endeffekt ist die US-Inflation gefallen und das Wirtschaftswachstum hat sich gleichzeitig gut entwickelt. Das spricht in der Regel für höhere Bewertungen.
Dem Investor hilft das wohl wenig?
Das ist primär ein Problem für langfristige Investoren. Unser Research hat gezeigt, dass die Erklärungskraft von Bewertungen für Aktienrenditen mit dem Investmenthorizont steigt. Deshalb ist auf fünf bis zehn Jahre in der Regel die Bewertung ein viel wichtigerer Treiber für die Gesamtrenditen. Aber auf einem Einjahreshorizont sieht man relativ wenig Erklärungskraft durch die Bewertungen. Deswegen sind wir für 2025 nicht notwendigerweise aufgrund der Bewertungen besorgt. Wir denken, die können auf dem Level bleiben, solange die Makrokonditionen freundlich bleiben. Wir würden aber nicht erwarten, dass sie weiter ansteigen. Entsprechend ist das Risiko für Kurskorrekturen etwas höher.
Bei den «magischen Sieben» Alphabet, Amazon, Apple, Meta, Microsoft, Nvidia und Tesla ist das Korrekturrisiko deshalb hoch?
Für die grosskapitalisierten bekannten Namen gilt das auf jeden Fall, weil die Erwartungen ungemein hoch sind. Sie sind generell oft auch volatiler als der Markt.
Ist es aktuell der falsche Zeitpunkt, um langfristig in US-Aktien einzusteigen?
US-Aktien haben sich über einen langfristigen Zeithorizont immer bewährt und dementsprechend sollte man immer einen gewissen Anteil US-Aktien haben - das hängt natürlich auch von der Risikotoleranz ab. Die Frage im Moment ist eher, wie viel Aktiengewichtung. Wenn wir ein Jahrzehnt zurückschauen, wäre die optimale Aktienallokation gemäss Markowitz-Portfolio-Optimierung bei 100 Prozent gewesen. Das dürfte in den nächsten zehn Jahren nicht mehr der Fall sein. Die Anleiherenditen sind jetzt weltweit - ausser in der Schweiz - viel höher als in der letzten Dekade. Da denke ich, wird die richtige Balance wieder eine wichtigere Rolle spielen.
Wie kann ich mich als Anleger optimal positionieren?
Man sollte eher aktiv in Aktien investieren und dabei vielleicht die teuersten Aktien vermeiden. Zweitens drängt sich eine Diversifikation innerhalb des Aktienuniversums auf, um das Risiko besser zu managen. Gerade in Europa haben wir relativ günstige Bewertungen bei Qualitätstiteln. Wir nennen diese europäischen Qualitätsaktien die «Granolas». Das sind die elf grössten Qualitätswachstumstitel in Europa. Diese haben letztes Jahr schlechter als der Markt abgeschnitten. Luxusgüteraktien oder bestimmte Pharmawerte sind alles interessante Unternehmen über einen langfristigen Zeithorizont. Gut diversifiziert in Aktien zu investieren, ist daher die beste Strategie.
Haben die europäischen «Granolas» GSK, Roche, ASML, Nestlé, Novartis, Novo Nordisk, L’Oréal, LVMH, Astrazeneca, SAP und Sanofi zusammen mehr Potenzial als der S&P 500 Index?
Wir haben im Moment für Europa etwas geringere Renditen als in den USA. Das liegt an der ökonomischen Situation, Europa fällt wirtschaftlich im relativen Vergleich ab. Einerseits wegen der US-Politik, andererseits auch wegen der China-Schwäche. Aber die «Granolas» sind da ein Stück weit isoliert, da sie mit Blick auf den Umsatz ein geringeres Europa-Exposure haben. Diese internationalen Firmen sehen wir als unterbewertet an. Beim S&P 500 sehen wir auf der anderen Seite ein Jahresendziel von 6500 Punkten. Das entspräche einem Kursgewinn von 9 Prozent. Insofern ist das Potenzial vorhanden, dass die besten, grosskapitalisierten europäischen Wachstumstitel mehr als 9 Prozent Rendite im Jahr 2025 liefern.
Die Volatilität der «Granolas» liegt unter derjenigen des S&P 500 Index. Weshalb?
Fast 50 Prozent der Volatilität im S&P 500 Index kommen von den zehn Top-Titeln. Deshalb ist das ein relativ risikoreicherer Trade, weil die magischen «Sieben» deutlich mehr Volatilität mit sich bringen. Gerade wegen des Enttäuschungspotenzials bei den grösstkapitalisierten S&P-Titeln dürfte die Volatilität beim Rest des S&P und natürlich bei den «Granolas» geringer ausfallen. Die «Granolas» haben zudem defensivere Qualitäten, während der S&P 500 ein offensiver Index ist. Wer die Nase am Ende des Jahres vorne hat, ist aber schwer zu sagen. Der S&P 500 Index ist einfach eine Innovationsmaschine und hat eine starke und optimistische Investorenbasis.
Was heisst das?
Die US-Haushalte haben die höchste je gemessene Aktienallokation. Amerika hat zudem ein reales Einkommenswachstum. Deshalb besteht Potenzial, den US-Aktienmarkt noch einmal weiter anzutreiben. Diese Ausgangslage haben wir in Europa leider nicht. Das ist gut und schlecht, denn es ist selten, dass die europäischen Aktien zu teuer sind. Aber Europa hat einfach nicht die optimistischen Investoren und wir haben auch nicht diese Aktienkultur. Deshalb muss man in Bezug auf die US-Märkte im Spätzyklus immer vorsichtig sein. Es zahlt sich ohne negatives Makromomentum selten aus, gegen Aktienmärkte zu wetten, die eine starke Aktienkultur haben. Diese «Boom and Bust»-Zyklen gehören am US-Aktienmarkt einfach dazu. Interessanterweise muss man auch in China vorsichtig sein. Wer dort auf einen Bärenmarkt setzt, kann wegen der von Retail-Investoren getriebenen Rallys schnell auch sehr viel Geld verlieren.
Wie beurteilen Sie die Chancen am Schweizer Aktienmarkt?
Die Schweizer Unternehmen haben ein relativ geringes Risikoprofil und der Swiss Market Index (SMI) ist eine Art defensiver Qualitätsindex mit Pharmawerten, Nahrungsmittel und Luxusgütern. Das sind alles Bereiche, die strukturell interessant sind, aber im letzten Jahr gelitten haben. Als eher jüngerer, langfristiger Investor, kann man potenziell ein bisschen mehr Aktien ins Portfolio legen als bei einem klassischen Portfolio mit 60 Prozent Aktien und 40 Prozent Obligationen. Aber auch da gilt: Internationale Diversifikation ist das A und O.
Schweizer Obligationen sind unattraktiv. Sind es zehn- oder zwanzigjährige US-Staatsanleihen mit einer Rendite von 4,6 respektive 5,2 Prozent?
Wenn man die US-Renditen im langfristigen Vergleich anschaut, sind wir auf Niveaus, die relativ attraktiv erscheinen. Der 300-Jahres-Durchschnitt des zehnjährigen Zinses liegt in den USA bei 4,6 Prozent. Wenn man die 70er-Jahre ausklammert, fällt diese auf 4,3 Prozent. Dementsprechend sind wir wieder in einer normaleren Welt. Nach der Finanzkrise war der Anleihenmarkt nicht normal. Die Zinsen waren zu niedrig, wir hatten sehr viel Zentralbanken-Stimulus und das hat einfach zu negativen Renditen geführt.
Christian Müller-Glissmann ist Leiter des Research für Anlageallokation im Bereich Portfoliostrategie bei Goldman Sachs. Zuvor war er in der Tactical Research Group mit Schwerpunkt auf quantitativen Anlagestrategien tätig. Davor war Müller-Glissmann im Derivatehandel in Frankfurt tätig. Er kam 2005 als Analyst zu Goldman Sachs und wurde 2015 zum Managing Director ernannt.
2 Kommentare
Ich mag in diesem Forum fremd klingen. Aber die Aussage von Herrn Müller-Glissmann "...Da Präsident Trump am Inaugurationstag aber wenig negative Beschlüsse gefasst hat, wurde der Markt eher positiv überrascht." Doch etwas entgegensetzen.
Und zwar als politisch interessierter Mensch. So eine Aussage kann nur sagen, wer mit Scheuklappen und tiefgelegter Dächlikappe durch einen Tunnel geht.
Und als jemand, der auch Märkte etwas verfolgt und durchaus etwas angelegt habe, bin ich doppelt erstaunt: Wie kann man nach solchen wenigen Wochen schon so positiv über diese Märkte urteilen. Die Folgen von wirtschaftsbezogenen Entscheiden wirkten noch nie - und wirken also auch jetzt nicht - von heute auf morgen.
Ich wünschte mir Leute, die auch über ihren nächsten Bonus hinweg arbeiten - um es mal sehr pointiert zu formulieren. Man könnte auch sagen, ich wünschte mir an solchen Stellen auch Leute mit nicht nur technischem Fachwissen sondern auch noch etlichen anderen Qualitäten, die ein erfreuliches Zusammenleben bewirken.
Uff, ich musste es mal loswerden.
Von der Vergangenheit auf die Zukunft zu schliessen ist riskant. China ist massiv günstiger bewertet als die USA und die jungen Menschen hat Indien. Daher gilt wohl einfach, breit anlegen.