cash.ch: ​​Frau Olsen, die Aktienmärkte befinden sich auf einem Rekordniveau. Wie ist die Stimmung?

Birgitte Olsen: Die meisten westlichen Börsenbarometer erreichen tatsächlich neue historische Rekordstände beflügelt von guten Ergebnissen des ersten Quartals, sinkender Inflation und der Erwartung baldigen weiteren Zinsschritte. Seit Covid konnte der EURO STOXX 50 50 Prozent zulegen und der S&P 500 sogar 60 Prozent. Es wäre jetzt wünschenswert, wenn die Märkte eine Verbreiterung erfahren würden, denn Small Cap Indexes hinken trotz der Rallye seit Oktober immer noch stark hinterher

Es gibt in der Breite noch Chancen?

Der europäische Markt handelt aktuell bei einem KGV von ungefähr 13,6 vorausschauend auf zwölf Monate, was nicht schockierend ist, denn das ist nur leicht über den historischen Durchschnitt der letzten 20 Jahre. Dahinter verbergen sich aber grosse Diskrepanzen. So erreichen die elf grössten Unternehmen – auch von Goldman Sachs 'Granolas' getauft – ein KVG von circa 20, während Small Caps dagegen bei 12,8 handeln. Als Stockpicker finden wir zur Zeit in Europa viele attraktiv bewertete Unternehmen im Small & Mid-Cap-Bereich. Es gibt eine Vielzahl von Gelegenheiten, da die Bewertungsunterschiede zwischen kleinen und grossen Unternehmen, Value und Growth, USA und ex-USA erheblich sind.

Wann wird diese Rotation stattfinden?

Es gibt Tendenzen in diese Richtung. Seit Ende März haben Small Caps 4,3 Prozent zugelegt, im Gleichschritt mit dem Stoxx 50 und etwa 1 Prozent mehr als der Stoxx 600 und der S&P 500. Von den Kapitalflüssen her sehen wir auch mehr Interesse für die Value-Segmente des Marktes. Nebenwerte werden generell als zinssensitiver gesehen, und eine Normalisierung des Zinsniveaus sollte einer Rotation begünstigen. 

Und wie ordnen Sie die aktuelle konjunkturelle und geldpolitische Lage ein?

Nach der SNB und der schwedischen Riksbank hat nun wie erwartet die EZB ebenfalls den ersten Zinsschritt von 4 Prozent auf 3,75 Prozent eingeleitet. Auch wenn Frau Lagarde es unterlassen hat, explizite oder implizite Signale für den weiteren Verlauf zu setzen, sollte sich nach unserem Szenario diese Normalisierung - in Absenz weiteren exogenen Schocks - im Laufe der nächsten Quartale fortsetzen. Ebenfalls wurde die 2024 BIP-Wachstumsprognose von 0,6 Prozent auf 0,9 Prozent angehoben, und die Frühindikatoren indizieren ein Durchschreiten der Talsohle für die europäische Wirtschaft. 

Sie setzen auf günstige Nebenwerte. Wie finden Sie diese?

Für uns sind Megatrends ein sehr wichtiger Teil unserer Aktienauswahl. Dazu gehören Bereiche wie Automatisierung, Digitalisierung, Rechenleistung, Künstliche Intelligenz, Energiewandel, Elektrifizierung und Rohstoffknappheit. Zudem gibt es den grossen Trend der Deglobalisierung, mit Fokus auf lokale Produktion und eine Neugestaltung der Lieferketten. Dies führt zu Investitionen, von denen bestimmte Unternehmen als Lösungsanbieter in Form von Produkten oder Dienstleistungen stark profitieren.

Welche Aktien sind in Europa interessant?

Ein interessantes Unternehmen in unserem Portfolio ist zum Beispiel Wärtsilä, ein finnisches Unternehmen, Erfinder des marinen Diesel-Motors. Jetzt bietet das Unternehmen Lösungen für den Energiewandel. Wärtsilä hat erkannt, dass im Zuge der Dekarbonisierung alternative Lösungen wie Dual-Fuel, Wasserstoff oder elektrobasierte Lösungen benötigt werden. Ein Schweizer Unternehmen, das hier auch profitiert, ist Acceleron, ein Zulieferer von Wärtsilä für Turbokompressoren.

Warum sind Sie von diesem Geschäftsfeld so überzeugt?

Schiffseigner und -bauer stehen vor der Herausforderung, dass sie nicht in eine Rolls-Royce-Lösung investieren möchten und gleichzeitig unsicher sind, was der zukünftige Standard sein wird. Sie wissen jedoch, dass sie sich in Richtung Dekarbonisierung bewegen müssen. Hier kommt Wärtsilä ins Spiel, denn das Unternehmen bietet eine Vielzahl von Lösungen an. Über 60 Prozent des Geschäfts kommt aus Wartungsarbeiten. Dies ähnelt dem Geschäftsmodell von Burckhardt Compression und sollte hoch profitabel sein.

Bei welchen Unternehmen sehen Sie sonst noch Chancen?

Kabelhersteller wie Nexans aus Frankreich mögen wir. Wettbewerber wären Prysmian aus Italien oder NKT in Skandinavien. Hochspannungskabel werden für die Verbindung von beispielsweise Offshore-Windkraft mit dem Festland oder für die internationale Verbindung von Stromnetzen benötigt. Die Auftragsbücher der Hochspannungssparten sind bis 2030 gefüllt. Darüber hinaus zeichnet sich einen steigenden Bedarf an Netzinvestitionen ab, auch im Mittelspannungsbereich, was für Nexans ebenfalls sehr positiv ist. 

Es geht um eine zukünftige stabile Stromversorgung durch erneuerbare Energien...

Genau. In einer Umgebung mit mehr erneuerbarer Energie im System müssen wir sicherstellen, dass Datenzentren, Wärmepumpen und Elektroautos bedient werden können. Wie können wir den Höchstbedarf managen? Und natürlich geht es auch um die Netzstabilität. In der Schweiz stellt Huber+Suhner ebenfalls Kabel her, im Bereich Hochfrequenz, Fiberoptik und Niederfrequenz, jedoch für unterschiedliche Applikationen Die Firma hatte letztes Jahr unter anderem aufgrund des Telekombereichs in den USA eine schwierige Phase, sie erholt sich jedoch langsam. Es lässt sich eine verbesserte Nachfragesituation erkennen. Fast die Hälfte der Positionen im Fonds haben mit denen von uns identifizierten Megatrends zu tun. Da spreche ich von Megatrends, die nicht erst in zehn Jahren Geld abwerfen, sondern schon heute zu Cashflows führen.  

Sie sprechen nicht von Unternehmen mit Verlusten wie Meyer Burger?

Unsere Investitionsphilosophie besteht darin, in Unternehmen zu investieren, die jetzt schon profitabel sind und einen positiven Cashflow aufweisen. Auch machen wir keine Kompromisse, was die Qualität der Bilanzen betrifft, denn seit dem Ende der Nullzins-Ära geht die Börse mit Wachstumstiteln, die nicht profitabel sind, hart um. Bewertungen haben wieder mehr Bodenhaftung erfahren. Unternehmen wie Meyer Burger oder Nel in Norwegen, um ein paar Beispiele zu nennen, sind für uns keine geeigneten Investments, sondern eher spekulative Wetten. 

Bei welchen Schweizer Unternehmen sehen Sie jetzt das grösste Kurspotenzial?

Huber+Suhner und Burckhardt Compression sind zwei Unternehmen, die unserer Meinung nach echte Best-in-Class sind. Das Thema Digitalisierung und Künstliche Intelligenz wird exzellent von VAT und Inficon besetzt. Dies sind Unternehmen, die hervorragende Leistungen bei der Ausführung, den Margen und dem Management zeigen. Der Markt zahlt zwar einen gewissen Preis dafür, aber die Wachstumsperspektiven sind klar erkennbar. Der Cashflow ist ebenfalls vorhanden und die Margen sind sehr hoch, unterstützt durch Marktanteile von 60-70 Prozent. Abschliessend ist im Value-Bereich auch u-blox interessant.

Warum?

u-blox konzentriert sich auf den IoT-Bereich. Ein Drittel des Endmarktes entfällt auf den Automobilsektor, zwei Drittel auf die Industrie. Wir haben unterschätzt, wie stark der De-Stocking-Effekt war und wie lange er anhielt. Aber jetzt sollte das Geschäft wieder in Fahrt kommen, was noch nicht in der Bewertung widerspiegelt ist.

Sie haben VAT erwähnt. Bei diesem Unternehmen kann man sagen, dass es aufgrund ihrer Marktdominanz und Technologie über eine gewisse Wettbewerbsvorteil verfügt. Gibt es noch andere Schweizer Unternehmen, bei denen Sie einen vergleichbaren Wettbewerbsvorteil sehen?

Sicherlich Burckhardt Compression. Auf dem Kompressorenmarkt gibt es weltweit nur vier grosse Firmen, und Burckhardt hat in einigen Anwendungen einen Marktanteil von über 50 Prozent. Wachstumsfelder sind LPG, Hydrogen oder aber die Deglobalisierung ist einen Wachstumstreiber, denn für Schlüsseltechnologien wie Solar wird versucht Kapazitäten ausserhalb Chinas aufzubauen. Investitionen für neue Anwendungen wie Ammoniak, Biogas sowie E-Kraftstoffe zeigen ebenfalls ein positives Momentum. Das Attraktive an dem Geschäftsmodell ist auch der hohe Anteil am hochprofitablen wiederkehrenden Ersatzteil- und Servicegeschäft, denn Kompressoren laufen 24/7 über einen langen Zeithorizont bis über 60 Jahre. 

Wie sehen Sie den Uhrenkonzern Swatch, dessen Aktien als sehr günstig erscheinen?

Swatch ist ein klarer Value-Titel. Die Frage ist, was genau den Auslöser für eine Aufwertung darstellt. Wenn man die einzelnen Marken betrachtet und bewertet, ergibt sich eine Börsenkapitalisierung von weit über 10 Milliarden Franken. Es ist offensichtlich, dass diese Marken unter anderen Umständen anders bewertet würden, wie zum Beispiel bei Louis Vuitton. Allgemein gibt es eine grössere Kluft im Luxusmarkt. Es gibt Unternehmen wie Hermès mit einem KGV von 40, einige mit einem KGV von 25 wie LVMH oder Moncler, und dann gibt es viele Unternehmen wie Kering, die weit abgeschlagen sind.

Und wie steht es um den Gesundheitssektor und den Finanzsektor?

Im Finanzsektor bietet die Schweiz zwei grossartige Unternehmen, VZ und Swissquote. Zwei disruptive Unternehmen mit innovativen Geschäftsmodellen und gute Managementteams, die hervorragende Arbeit leisten. Beide Unternehmen haben eine Marktkapitalisierung von über 4 Milliarden Franken erreicht. Wenn man 10 Jahre zurückschaut, ergibt sich eine jährliche Rendite von fast 25 Prozent bei Swissquote und 16 Prozent bei VZ.

Und was den Gesundheitssektor betrifft?

Die Schweiz beherbergt sehr gute Unternehmen im Gesundheitssektor, jedoch haben viele ihren Preis. Beispiele sind Straumann, Bachem oder Sandoz. Wir finden den Risk/Reward im Bereich Technologie- und Industriewerte oft interessanter, denn die KGVs scheinen im Vergleich zum erzielbarem Wachstum in einigen Technologie- und Industriewerten vielversprechender zu sein.

Birgitte Olsen, CFA, Senior Portfolio Manager Aktien Europa, trat 2008 bei Bellevue Asset Management ein. Sie verantwortet dort die Fonds "Bellevue Entrepreneur Europe Small", "Sustainable Entrepreneur Europe", "Entrepreneur Switzerland" und "Entrepreneur Swiss Small & Mid". Davor war sie über neun Jahre bei Generali Investments in Köln als Stellv. Leiterin für das Portfolio Management Aktien Europa zuständig.  Als Fondsmanagerin arbeitete sie 1997 und 1998 bei Vontobel Asset Management in Zürich. Birgitte Olsen startete ihre Karriere in der Finanzbranche 1994 als Sell-Side Analystin bei der Bank am Bellevue für die Sektoren Versicherungen und Pharma. Sie hat ein Studium in  Finanz- und Rechnungswesen an der Universität St. Gallen abgeschlossen.

ManuelBoeck
Manuel BoeckMehr erfahren