Gemäss der traditionellen Taylor-Regel als auch der modifizierten Version von Pictet Asset Management sollten die Schweizer Leitzinsen höher stehen. Die jüngste Senkung mit Fokus auf Inflation und Wirtschaftswachstum ist nicht gerechtfertigt, da die Schweizerische Nationalbank (SNB) ihren geldpolitischen Normalisierungsprozess im Jahr 2023 noch nicht wirklich abgeschlossen hat, schreiben Nikolay Markov, Ökonom, und Alex Morel, Quant-Analyst von Pictet Asset Management. Ein adäquates Niveau beim Leitzins von 2,20 Prozent sei angebracht, verglichen mit dem aktuellen Satz von 1,50 Prozent. 

Die bekannte Taylor-Regel besagt, eine Zentralbank sollte die Zinsen erhöhen, wenn die Inflation über dem Zielwert steht oder wenn das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) plus oder minus eines Koeffizienten zu hoch und über dem Potenzial liegt. Im Umkehrschluss sollte eine Zentralbank die Leitzinsen senken, wenn die Inflation unter dem Zielniveau liegt oder wenn das BIP-Wachstum zu langsam ist und unter dem Potenzial liegt.

Ein Vergleich der Taylor Rule von Pictet, die lineare Taylor Rule und die aktuellen Leitzinsen.

Ein Vergleich der Taylor Rule von Pictet, die lineare Taylor Rule und die aktuellen Leitzinsen.

Quelle: Pictet Asset Management

Den Grund für die Zinssenkung durch die Schweizerische Nationalbank sehen die Pictet-Experten deshalb beim starken Franken. Die SNB verwies denn auch an der Sitzung zur geldpolitischen Lagebeurteilung vom 21. März 2024 darauf, die jüngsten geldpolitischen Entscheidungen seien unter dem Gesichtspunkt des Risikomanagements getroffen worden. «In diesem Fall wurde das Risiko, die Zinsen nicht zu senken und möglicherweise eine weitere Aufwertung des Schweizer Frankens zuzulassen, als am bedeutendsten eingeschätzt.» 

Diese Divergenz zwischen der tatsächlichen Politik und dem Pictet-Modell könnte eine neue Ära für die SNB-Politik einläuten, da die Beziehung zwischen beiden - Taylor Rule und Leitzins - in den Vorjahren relativ eng war, merkt Markov weiter an. 

Kein Dilemma für die Nationalbank

Die modifizierte Version der Taylor-Regel von Pictet verfolgt einen nichtlinearen, semiparametrischen Ansatz, der Währungsschwankungen und die wechselseitige Wechselwirkung zwischen Wechselkursen und Inflation berücksichtigt. Die Einfachheit der Taylor-Regel mit ihren Einschränkungen kann so umgangen werden, weil Zentralbanken neben Wachstum und Inflation noch viele andere Faktoren berücksichtigen.   

Es gibt Wechselkurse, die einen starken Zusammenhang mit der Inflation und mit der Zentralbankenpolitik haben. Dies ist in den USA weniger bedeutsam, da es sich um eine grosse Volkswirtschaft handelt, die relativ geschlossen ist und nicht sehr empfindlich auf Wechselkursschwankungen reagiert. Anders sieht die Situation in Europa aus, wo die Europäische Zentralbank in der Vergangenheit dazu tendierte, die Zinssätze aggressiv zu senken, wenn der Euro um mehr als 2,5 Prozent aufgewertet hat nach Anpassung an die Inflation.

EZB hat mehr Spielraum für Zinssenkungen als die Fed

Für das kommende Jahr deutet das modifizierte Modell im Vergleich zur traditionellen Tayor-Regel auf weniger aggressive Zinssenkungen in den USA und Europa hin. «Für Anlegerinnen und Anleger ist jedoch die wichtigste Erkenntnis, dass die Leitzins-Reduktionen in den USA und Europa selbst unter Berücksichtigung der Komplexität des Verhaltens der Zentralbanken wahrscheinlich umfangreicher ausfallen dürften, als derzeit von den Märkten eingepreist wird. Dies bietet eine zusätzliche Dimension, auf der Bewertungs- und Investitionsentscheidungen basieren sollten», halten die Studienautoren fest..

Dieses zusätzliche Potenzial für Zinssenkungen in den USA und Eurozone könnte vielleicht im Jahr 2025 der entscheidende Faktor dafür sein, dass die Schweizerischen Nationalbank einmal mehr recht behalten wird, als sie als erste grosse Notenbank den Zinssenkungszyklus eingeläutet hat - auch wenn die hiesigen Leitzinsen gemäss modifizierter Taylor Rule von Pictet zu tief sind. 

Stärkere und kräftigere Zinssenkungen in den USA und Europa hätten zur Folge, dass sich der Franken gegenüber dem US-Dollar und dem Euro nicht zu stark und vor allem schnell abwertet. Das deutet darauf hin, dass das Drehen an der Zinsschraube das primäre Instrument der SNB bleibt, um die Konjunktur, Teuerung und Währungskurse für den Moment zu steuern. 

Gerade für Investorinnen und Investoren an den Aktienmärkten sind die Analyse-Ergebnisse der Taylor Rule eine gute Nachricht. Das Potenzial für Zinssenkungen ist vorhanden - ein erster Vorgeschmack war die neuerliche Kursrally der letzten acht Börsentage, welche unter anderem durch den Rückgang der Renditen bei den zehnjährigen US-Staatsanleihen nach erfreulichen Inflationsdaten ausgelöst wurde. 

Thomas Daniel Marti
Thomas MartiMehr erfahren