Herr Solina, warum fühlt sich die Rekordjagd an der Börse ungerechtfertigt an? 

Alessandro Solina: Das aktuelle Umfeld ist tatsächlich seltsam. Vonseiten der Makroökonomie befinden wir uns in einer Art von Spätzyklus mit bald fallenden Zinsen. Gleichzeitig ist der Mikrobereich, also die Haushalte und die Unternehmen, in einer Art Früh- bis Mittelphase des Zyklus.

Wie lässt sich das erklären? 

Mit der Pandemie, wie vieles. Die Unternehmen und auch die Privathaushalte konnten sich vor der Zinswende günstig refinanzieren. Normalerweise kommt es in der Spätphase des Zyklus zu Überinvestments und exzessiver Verschuldung. Doch beides blieb aus. Das sorgte für ein sehr positives Aktienumfeld. 2023 profitierten vor allem die USA, nun beginnt sich die Wirtschaft in Europa und dem Rest der Welt aufzuhellen. Der Aufschwung breitet sich aus.

Dann sieht es vielleicht nicht so düster aus – aber sind All-Time Highs gerechtfertigt? 

Wenn es so läuft, wie wir uns das vorstellen, sind sie das. Wir denken, dass die Teuerung weiter sinkt und die Zinsen in naher Zukunft zunächst in der Eurozone und dann auch in den USA fallen. Gegen Ende 2025 könnten sie in den USA bei drei, in der Eurozone bei rund zwei Prozent liegen. Zudem gehe ich davon aus, dass die Wirtschaft deutlich länger wächst als vom Markt derzeit erwartet.

Auf welches Niveau? 

Der Zyklus mit positiven Wachstumsraten und steigenden Gewinnen dürfte nicht nur bis 2025 anhalten, sondern bis 2026 oder sogar 2027. Der Konsens sagt für den S&P 500 für 2024/25 jeweils ein Gewinnwachstum von zehn Prozent voraus. Wir sehen die Gewinne auch noch 2026 um zehn Prozent wachsen. Die derzeit hohen Bewertungen wären dann gerechtfertigt. Der Markt nimmt das vorweg. Der S&P 500 könnte in so einem Wachstumsumfeld 2025 auf 5600 oder 6000 Punkte steigen.

Also US-Aktien kaufen? 

Oder noch besser europäische oder japanische. Aber wir schauen eher auf Sektoren. In Europa gefallen uns vor allem Banken und Versorger. Der KI-Boom und das ganze Datamining erhöhen den Verbrauch und sorgen für Nachfrage. Auch profitieren die Versorger vom fallenden Zinsniveau. Wir mögen europäische Banken: Sie finden mit hohen Zinsmargen und wenigen Kreditausfällen ein perfektes Umfeld vor. Fallende Kurse sehen wir in defensiven Sektoren wie Gesundheit und Konsumgütern.

Genau die dominieren den SMI. Also hinkt die Schweiz weiterhin hinterher? 

In unserem Szenario schon. Sollte sich die US-Wirtschaft deutlich abschwächen, würde die Zeit für defensive Schweizer Aktien kommen.

Erich Gerbl
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