cash.ch: Herr von Waldkirch, Sie haben in Elektrotechnik an der ETH promoviert - jener Universität, an der Sensirion als Spin-off entstand. Ab 2005 machten Sie bei Sensirion Karriere, seit 2016 sind Sie CEO. Sind Sie stolz auf Ihren Werdegang?

Marc von Waldkirch: Ich möchte nicht von Stolz sprechen. Ich hatte damals an der ETH zwei Ziele: Ich wollte Technologie mit unternehmerischem Denken verbinden. Und ich wollte meine eigene Firma gründen. Letzteres ist zwar nicht geschehen. Doch bei Sensirion konnte ich in den vergangenen Jahren trotzdem viel bewirken und aktiv mithelfen, etwas Tolles aufzubauen – und werde das auch in Zukunft können. Das motiviert täglich.

Sie haben den Börsengang im Jahr 2018 erlebt. Danach lief es zunächst gut, die Aktie stieg von 47 auf fast 140 Franken im Herbst 2021. Seither ist sie auf unter 60 Franken gefallen. Woran liegt das?

In der Tat, der Kurs war volatil. Man muss aber aufpassen, den Aktienkurs nicht zu stark als Sinnbild des Zustands der Firma zu betrachten - mittel- bis langfristig zwar schon, kurzfristig gibt es Schwankungen, die mit der Firma selbst nichts zu tun haben. Eine Boomphase erlebte unser Unternehmen zwischen 2020 und 2022, primär getrieben durch die Pandemie und die anschliessende Knappheit an Elektronik-Komponenten. Wir sind der weltgrösste Hersteller von Sensoren für Beatmungsgeräte. Und in diesem Bereich war die Nachfrage während der Pandemie natürlich enorm. Zusätzlich profitierten wir von einer grossen Nachfrage nach unseren damals brandneuen Umweltsensoren: Die Leute waren sehr besorgt über die Ansteckungsgefahren in Innenräumen und haben als Folge dessen viele Luftreiniger und CO2-Überwacher gekauft. Nach der akuten Pandemie-Phase konnten wir die Elektronik-Knappheit für uns nutzen: Unsere Lieferzeiten waren wesentlich kürzer als die unserer Mitbewerber. So hatten wir in den Jahren 2020 bis 2022 sehr hohe Umsatzzuwächse und als Folge davon auch eine sehr hohe Profitabilität.

2023 kam die kalte Dusche. Der Umsatz brach 2023 gegenüber dem Vorjahr um rund 28 Prozent ein.

Ja, so war es. Einerseits hatten zahlreiche Kunden ihre Lager voll und reduzierten ihre Abrufe substantiell. Zusätzlich fehlten uns plötzlich die pandemie-getriebene Nachfrage nach Umweltsensoren. Die Sorge über Ansteckungen in Innenräumen ging zurück, so dass Luftreiniger und CO2-Überwacher weniger gefragt waren. Diesen letzteren Rückgang haben wir stark unterschätzt. Solche Effekte müssen wir in Zukunft besser einschätzen. Das Jahr 2023 war daher ein sehr schwieriges Jahr für uns. Wenigstens können wir konstatieren, dass wir keine Kunden verloren haben, sie haben lediglich weniger bestellt.

War das der einzige Grund für das schwache 2023?

Das andere war ein Einmaleffekt aus dem Jahr 2022. Damals hatte ein Kunde ein Qualitätsproblem und benötigte zusätzliche Sensoren. Dieser Sonderauftrag fiel 2023 wieder weg, was wir aber von Anfang an offengelegt haben. Wenn man diesen Einmaleffekt abzieht, bleibt ein Umsatzrückgang von rund 20 Prozent im Jahr 2023.

Von Ihnen stammt das Zitat aus dem Jahr 2021: «Ein starker Frankenkurs ist wie ein Fitnessprogramm». Wie sieht dieses Fitnessprogramm bei Sensirion aus?

Es ist unglaublich anspruchsvoll, einem starken Franken ausgesetzt zu sein. Doch es hat auch seine gute Seite: es zwingt uns täglich, uns fit zu halten. Das wichtigste Element unseres «Sportprogramms» heisst Innovation. Wir wollen stets einen oder zwei Schritt vor unseren Mitbewerbern sein, auch vor den chinesischen. Als Schweizer Firma mit einer sehr hohen Kostenbasis und dem Gegenwind des starken Frankens müssen wir uns durch Innovationen abheben. Zudem müssen wir so schnell wie möglich sein. Da sind uns die Chinesen oft voraus - und wir können von ihnen lernen.

Im ersten Halbjahr betrug der Währungseffekt beim Umsatzwachstum fünf Prozentpunkte. Sie können sich dem starken Franken trotz Fitnessprogramm nicht entziehen.

Wir betreiben so viel natürliches Hedging wie möglich, damit wir Währungseffekte möglichst vermeiden können. Wir sind uns aber bewusst, dass wir zu klein sind, um wie ABB oder Nestlé quasi natürlich gegen den starken Franken geschützt zu sein. Und ja, wir haben einen grossen Fussabdruck in der Schweiz, insbesondere in Forschung und Entwicklung (F&E).

Ist der Moment, sich mehr zu globalisieren, noch nicht gekommen?

Mit dieser Frage befassen wir uns tatsächlich, im Bereich F&E ist dies aber mit unserer Grösse nicht ganz einfach: Einerseits belastet uns der starke Franken, andererseits wollen wir unsere F&E kompakt, schlagkräftig und effizient halten. Wenn man eine F&E-Abteilung unserer Grösse auf zu viele unterschiedliche Länder splittet, verliert sie an Effizienz. Innovation heisst zusammenkommen, miteinander Lösungen schaffen. Das geht nicht nur mittels Online-Konferenzen. Da muss man auch ab und zu im gleichen Raum sitzen.

Und wie sieht es in der Produktion aus?

Da haben wir einen grossen Schritt ins Ausland vollzogen. 2016 produzierten wir ausschliesslich in der Schweiz. Heute findet rund 38 Prozent der Fertigung im Ausland statt. Ausgenommen sind unsere Sensor-Komponenten, die wir weiterhin in der Schweiz herstellen, um das geistige Eigentum bestmöglich zu schützen. Deswegen bekennen wir uns auch weiterhin klar zur Schweiz als Produktionsstandort.

Was setzen Sie der Konkurrenz, insbesondere aus China, entgegen?

Auf der Kostenseite und in der Geschwindigkeit ist die Konkurrenz aus China ganz klar stark. Das Mithalten ist ein permanenter Kampf. Doch ich glaube, wir haben eine Einzigartigkeit gegenüber den meisten unserer Mitbewerber weltweit: Typischerweise sind Firmen entweder klassische Sensorhersteller oder klassische Halbleiterkonzerne. Wir sind weltweit das fast einzige Unternehmen, das Sensorhersteller ist und eine halbleiterorientierte Fertigung hat.

Wie stark spüren Sie die Schwäche der Automobilindustrie?

Betroffen ist vorrangig die europäische Autoindustrie. Das spüren wir auch, insbesondere bei unseren Modulen, für die der deutsche Automobilmarkt sehr wichtig ist. Unser Komponentengeschäft hingegen ist globaler aufgestellt, und da sehen wir eine - vorerst - stabilere Situation. Wir beobachten die Situation aber aufmerksam.

Zum Halbjahresbericht vom August haben Sie den Ausblick für 2024 bestätigt - Umsatz und operative Marge werden gegenüber 2023 steigen. Bleiben Sie dabei?

Wir haben den Jahresausblick im November explizit bestätigt. Und ich kann das hier auch nochmals machen.

Sie haben sich im August mittel- bis langfristig optimistisch gezeigt, unter anderem aufgrund von Megatrends wie Energieeffizienz, Klimawandel und Gesundheit. Welche konkreten Chancen nehmen Sie wahr?

In erster Linie haben wir gerade in den letzten Monaten alle unsere Umweltsensoren miniaturisiert. Wir haben einen Innovationsschritt gemacht, auch gegenüber der chinesischen Konkurrenz. Eine zweite Chance sehen wir mit Leckage-Sensoren: Die Vereinigten Staaten wechseln per Januar auf ein anderes Kühlmittel in den Klimaanlagen. Es ist weit weniger klimaschädigend, aber dafür flammbarer. Deswegen verlangt der Regulator den Einbau eines Leckage-Sensors. Das ist für uns eine grosse Opportunität. Längerfristig sehen wir auch zum Beispiel im Medical-Bereich zusätzliche Chancen: Hier sind wir heute schon stark vertreten mit Durchflusssensoren, die die Luftströme der Ein- und Ausatmung der Patienten überwachen. In Zukunft wird es immer wichtiger, neben der Flussrate auch die Zusammensetzung der Ausatmungsluft zu messen. Daraus ergeben sich wertvolle Informationen über die Lungenfunktion, den Kreislauf und/oder den Stoffwechsel der Patienten. Dieser Markt ist für uns sehr wesentlich.

Sie haben mit dem Leckage- und dem Medical-Geschäft zwei Bereiche beschrieben. Wie hoch schätzen Sie das Potenzial dieser Geschäftsfelder?

Wenn wir in solche neuen Felder hineingehen, dann sollte das längerfristige Marktpotenzial im zweistelligen Millionenbereich liegen. Sonst lohnt es sich nicht. Wir wollen uns auch nicht in einem Verdrängungswettbewerb engagieren. Ein solches Engagement halten wir für nicht wahnsinnig inspirierend. Es klingt vielleicht unschweizerisch, aber: Wenn wir eine neue spannende Applikation angehen, haben wir immer die Ambition, die Nummer eins weltweit zu werden.

Inwiefern ist Künstliche Intelligenz (KI) ein Thema?

Da sehen wir zwei Anwendungsfelder. Das eine sind interne Effizienzsteigerungen. Da sind wir dran wie viele andere Firmen. Als Sensorhersteller interessiert uns aber zusätzlich, inwieweit wir KI zukünftig einsetzen können für die Analyse von Sensordaten in bestimmten Anwendungen. Knackpunkt ist dabei, dass KI zuerst ein grosses Set an qualifizierten Daten braucht, um sich selbst zu trainieren. Solche Sensor-Trainingsdaten existieren heute noch nicht. Längerfristig, wenn wir die Sensordaten haben, hoffen wir, Lösungen der zweiten und dritten Generation mit KI zu verbessern. Aber das ist noch ein längerer Weg.

Kürzlich haben Sie Ihre neu formulierte Wachstumsstrategie präsentiert. Basis sei die Unternehmenskultur, die Innovationen und Unternehmertum begünstige. Wie sieht das im Alltag aus?

Es fängt damit an, dass wir unserer Kultur einen Namen geben: der «Sensi-Spirit» und diesen auch sehr pflegen. Ganz wichtig bei einer Kultur ist immer, dass sie nicht von oben verordnet wird. Innovation soll bei uns von talentierten Ingenieuren kommen, die eine gute Idee haben, nicht nur von der Forschungsabteilung. Entscheidend ist: Wir wollen so kritisch miteinander sein, dass wir bereit sind, immer wieder aus der Komfortzone zu gehen, um täglich Top-Performance in jeglichen Abteilungen und Funktionen zu erzielen. Und wir wollen so unternehmerisch denken, dass wir auch zu Fehlern bereit sind. Sie bringen uns letztlich weiter.

Zur Strategie gehört auch, angrenzende Wachstumsfelder zu erschliessen. Welche haben Sie speziell im Blick?

Unser heutiges Kerngeschäft ist die Durchflussmessung und die Umweltsensorik. Aus dieser Stärke heraus können wir angrenzende Wachstumsfelder erschliessen: Einerseits können wir unsere angestammten Produkte nutzen, um neue Kunden für neue Applikationen zu gewinnen. Andererseits können wir auch den anderen Weg beschreiten: Wir nutzen unsere langjährigen Kundenbeziehungen, um mit ihnen zusammen ganz neue Produkte zu entwickeln. Ein Beispiel dazu ist, wie erwähnt, Medical: Da haben wir im Markt schon einen grossen Fussabdruck und viele bestehende Kunden, wollen aber mit der zusätzlichen Analyse der Ausatmungsluft bei Patienten Chancen für neue Produkte wahrnehmen.

In den nächsten drei bis fünf Jahren erwarten Sie ein jährliches Umsatzwachstum im niedrigen bis mittleren Zehnerprozentbereich und eine operative Marge im mittleren bis hohen Zehnerprozentbereich. Wie werden sie die dazu notwendige Leistungskonstanz sicherstellen?

Diese Mittelfrist-Guidance, die Sie zitieren, gilt als Mittelwert über den Zyklus von drei bis fünf Jahren. Von Jahr zu Jahr erwarten wir aber auch weiterhin eine gewisse Volatilität auf EBITDA-Stufe: Einerseits ist Sensirion im Komponentengeschäft von der Kostenstruktur her eine Halbleiterfirma - mit hohem Fixkostenanteil in der Fertigung aufgrund von teurem Equipment und damit abhängig von der Auslastung. Andererseits leisten wir uns hohe F&E-Investitionen zugunsten des Wachstums und der Innovation. Die F&E-Abteilung arbeitet nicht am Wachstum von heute, sondern am Wachstum der nächsten drei bis fünf Jahren. Das heisst, in einer Abschwungphase müssen wir uns gut überlegen, ob wir zur Stabilisierung der Margen die F&E sofort zusammenstreichen. Denn damit vergeben wir uns je nachdem auch neue Wachstumschancen.

Was könnte die Mittelfristziele von Sensirion durchkreuzen?

Die geopolitische Lage ist sicher eines der grössten Risiken. Als Halbleiterfertiger sind wir wegen der aktuellen Lage in Taiwan zusätzlich exponiert - zwei Drittel aller weltweit hergestellten Chips stammen aus diesem Brandherd der Geopolitik. Darüber hinaus hat Innovation intrinsisch mit Risiken zu tun. Innovation kann grossartig sein, man muss aber auch mit Fehlschlägen umgehen können.

Wie blicken Sie auf den Regierungswechsel in den USA?

Für eine global orientierte Firma sind Zölle oder Deglobalisierungstendenzen nie positiv, sondern ein Warnsignal. Letztendlich bin ich aber nicht allzu pessimistisch. Denn bei aller berechtigten Kritik am künftigen Präsidenten Trump: Am Ende des Tages ist er wirtschaftsfreundlich und wirtschaftsorientiert. Und wir werden sehen, wie viel von seinen Ankündigungen er tatsächlich umsetzt. Im Moment können wir nur auf den 20. Januar und die Amtseinführung warten. Danach werden wir uns möglichst flexibel auf die Umstände einstellen.

Marc von Waldkirch ist seit 2016 CEO von Sensirion. Zuvor bekleidete er während mehrerer Jahre verschiedene Managementpositionen innerhalb des in Stäfa beheimateten Unternehmens. Bis zu seinem Einstieg bei Sensirion arbeitete von Waldkirch als Forschungsassistent an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH Zürich). An der ETH schloss er auch sein Doktorat in Elektrotechnik sowie seinen Master in Physik ab.

Reto Zanettin
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