Ein Land, zu dessen wichtigsten Exportgütern Schokolade, Käse und Uhren gehören, profitiert vom wachsenden Anteil der Pharmaindustrie an der Gesamtwirtschaft, weil die Schweizerische Nationalbank dadurch etwas mehr Spielraum bei der Reaktion auf Wechselkurs-Schocks hat. Denn die Auslandsumsätze dieser Unternehmen mit ihren häufig patentgeschützten Medikamenten sind besser gegen Währungsschwankungen geschützt.
«Wenn ich ein Medikament brauche, weil ich Schmerzen habe, dann ist mir der Preis egal«, sagt David Marmet, Chefökonom der Zürcher Kantonalbank. »Je grösser der Beitrag der Pharmaindustrie zur Schweizer Wirtschaft wird, desto weniger sind wir vom Franken abhängig.«
Die Bedeutung der Branche könnte an jene des legendären Bankensektors des Landes heranreichen. Der Industriezweig, der zusammen mit der chemischen Industrie erfasst wird, macht heute etwa 6,3% des Bruttoinlandsprodukts der Schweiz aus — doppelt so viel wie vor drei Jahrzehnten und mehr als ein Drittel des Beitrags des gesamten verarbeitenden Gewerbes, das allmählich schrumpft.
Diese Erkenntnisse könnten die SNB dazu ermutigt haben, die Stärke einer Währung mehr zu tolerieren, die in Zeiten erhöhter geopolitischer Turbulenzen als sicherer Hafen gefragt ist. Im vergangenen Jahr stieg der Franken sowohl gegenüber dem Dollar als auch gegenüber dem Euro auf den höchsten Stand seit Anfang 2015.
Zwar hat die Zentralbank ihren Leitzins bereits auf 1% gesenkt — und wird im Dezember wahrscheinlich eine weitere Reduktion vornehmen —, doch geschah dies in graduellen, vierteljährlichen Schritten von 25 Basispunkten, im Gegensatz zu den drastischeren Schritten von einem halben Punkt, die in den letzten Monaten in den USA und Neuseeland zu beobachten waren. Auch wurden keine grösseren Devisenmarktinterventionen durchgeführt.
Die sich wandelnde Gestalt der Schweizer Wirtschaft erzählt nicht nur eine Geschichte über die Pharmaunternehmen selbst, sondern auch über die Schwierigkeiten des verarbeitenden Gewerbes in fortgeschrittenen Volkswirtschaften wie dem benachbarten Deutschland.
»Die Stärke der Pharmaindustrie überdeckt die Schwäche anderer Branchen, die zyklischer und wechselkursempfindlicher sind«, sagt Alexander Koch, Ökonom bei Raiffeisen in Zürich. »Es gibt einen beschleunigten Strukturwandel weg von der Industrieproduktion in der Schweiz.»
Im Zentrum des Pharmasektors stehen Roche und Novartis, deren Wurzeln in den Innovationen der Basler Färberei des 19. Jahrhunderts liegen, die sich auf die Herstellung von Arzneimitteln umstellte. Ihre Hauptsitze befinden sich auf der jeweils gegenüberliegenden Seite des Rheins, der in der Anfangszeit Frischwasser, eine Entsorgungsmöglichkeit für Abfälle und eine gute Verkehrsanbindung bot.
Gemessen an der Marktkapitalisierung gehören Roche und Novartis heute zu den zehn grössten Unternehmen im Stoxx Europe 600 Index und machen rund 30% des Swiss Market Index aus.
Die Branchenkollegen Lonza und Novartis-Spin-off Sandoz haben ihren Sitz ebenfalls in Basel, doch hat sich die Branche auf Standorte wie Zürich, Zug und die Genferseeregion ausgedehnt. Die Forschung ist ebenso ein Schwerpunkt wie die Produktion, die zu einem grossen Teil auch im Ausland stattfindet.
Die Schweiz ist nicht die einzige Volkswirtschaft mit einem übergrossen Pharmasektor, wie das Beispiel Dänemarks zeigt, das zunehmend von Novo Nordisk abhängig ist.
Die Schweizer Pharmahersteller sind mittlerweile bedeutend genug, um einen Einfluss auf das gesamtwirtschaftliche Wachstum auszuüben. Im vergangenen Jahr nannte Wirtschaftsminister Guy Parmelin die Branche als einen der Hauptgründe dafür, dass die Wirtschaft nach der Krise von 2008 und der Corona-Pandemie weniger stark schrumpfte als in anderen Ländern.
Der relative Beitrag der Pharmaindustrie zur Wirtschaft erhielt 2015 einen erheblichen Schub, als die SNB beschloss, die Frankenobergrenze aufzuheben, was andere Exporteure, deren Auslandsumsätze stärker preisabhängig sind, in Bedrängnis brachte.
Seit damals schreckt die Zentralbank nicht vor harten Massnahmen gegen Kapitalzuflüsse zurück, etwa als die Währungshüter ihre Zinsen weiter unter Null drückten als Kollegen irgendwo sonst auf der Welt — was erst endete, als vor zwei Jahren der globale Inflationsschub einsetzte.
Die nationalen Lobbygruppen haben dies zur Kenntnis genommen. Die Schweizer Uhrenindustrie gehörte zu jenen, die vor der letzten Zinssenkung der Währungshüter im September Massnahmen forderten.
Jean-Philippe Kohl, Leiter Wirtschaftspolitik bei der Technologielobby Swissmem, stellt fest, dass sich die von ihm vertretenen Unternehmen an die Stärke der Währung angepasst hätten und eine jährliche Aufwertung des Frankens um 1% verkraften könnten. Eine grössere Volatilität könne jedoch eine echte Herausforderung darstellen.
«Der Franken drückt auf die Margen und die Wettbewerbsfähigkeit», sagte er. «Plötzliche Ausschläge, wie wir sie in letzter Zeit erlebt haben, setzen die Hersteller unter erheblichen Druck.
Die Währungshüter der SNB erkennen die Herausforderungen an, aber Präsident Martin Schlegel hat auch gesagt, dass sich die Notenbanker nicht auf »spezifische Branchenprobleme« konzentrieren können. Letzten Monat hat er sogar ein Beispiel dafür angeführt, wie der Franken die Unternehmen zu mehr Produktivität anspornt.
Die wachsende Bedeutung der Pharmaindustrie birgt ihre eigenen Risiken. Da Amerika der bei weitem wichtigste Arzneimittelmarkt der Welt ist, könnten regulatorische Entscheidungen dort erhebliche Auswirkungen haben.
»Wenn die Medikamentenpreise in den USA gedeckelt würden, würde uns das hart treffen«, sagt Marmet von der Zürcher Kantonalbank. »Der Effekt könnte ähnlich sein wie in Deutschland, wo die Autoindustrie plötzlich zu kämpfen hat.«
Es besteht auch die Gefahr, dass man sich zu sehr von Roche oder Novartis abhängig macht. Beide hatten in den letzten Jahren Mühe, Investoren für sich zu gewinnen und einen überzeugenden Wachstumskurs einzuschlagen.
Mit 53.000 Arbeitsplätzen im Vergleich zu den 639.000 Stellen im gesamten Schweizer verarbeitenden Gewerbe spielt die Pharmaindustrie in der Realwirtschaft indes nur eine begrenzte Rolle.
Alle Unternehmen können sich damit trösten, dass die Zinsen wohl bald sinken werden, was sowohl die Finanzierungskosten reduzieren als auch die Anleger davon abhalten könnte, Franken zu kaufen.
Die Mehrheit der Ökonomen geht davon aus, dass die SNB den Leitzins noch zweimal von derzeit 1 Prozent auf 0,5 Prozent senken wird, während einige sogar eine Reduzierung auf Null zu gegebener Zeit nicht ausschliessen. Von 19 von Bloomberg befragten Ökonomen sagen drei einen Zinsschritt von 50 Basispunkten im Dezember voraus.
Obwohl die Zentralbanker wissen, dass ihre Möglichkeiten begrenzt sind, dürfte die Währung weiterhin ein Hauptaugenmerk bleiben.
»Für die SNB ist es wichtig, dass die Währung nicht plötzlich und zu schnell aufwertet«, sagt Marmet von der Zürcher Kantonalbank. »Die Währungshüter wissen, dass sie den Wechselkurs nicht niedrig halten können.“
(Bloomberg)