cash.ch: Herr Hlinka, Sie kommentierten am Mittwochmorgen die Meldung über neue Rückstellungen und einen erneuten Quartalsverlust bei der Credit Suisse per Tweet mit "Wie schlecht ist das denn?". Wie schlecht steht es um die zweitgrösste Bank der Schweiz? 

Mojmir Hlinka: Sehr schlecht. Man war ja zumindest von einem kleinen Gewinn ausgegangen. Doch es scheint eine Never Ending Story zu sein, die einen radikalen Umbruch vonnöten macht. Natürlich ist die CS noch immer "Too big to fail". Es muss strukturell etwas passieren.

Die US-Grossbanken marschieren davon und in Europa jagt eine Katastrophe die andere, vor allem bei der CS. Zuletzt war ja häufiger – unter anderem auch bei cash.ch – zu lesen, dass Bank-Aktien vor dem Hintergrund der Zinswende grundsätzlich unterbewertet seien…

…weil Banken in der Regel von steigenden Zinsen profitieren, was deren Aktien beflügelt.

Und dem stimme ich zu. Das Problem ist, dass Anleger Angst haben vor weiteren Desastern. Und das bremst die CS momentan. 

Also sollte man hier weiter Vorsicht walten lassen?  

Wir waren in den Grossbanken nie investiert, wir sind es nicht, und werden es in absehbarer Zeit auch nicht werden. Das sage ich seit über zehn Jahren. 

Im cash-Interview vom Herbst 2020 sagten Sie, dass sich die Bewertung von Aktien fundamental verändert habe. Grund seien die Tiefzinsen, die langfristig anhalten würden. Zuletzt hat am Markt jedoch eine Bewertungskorrektur stattgefunden, weil die Zinssorgen zurück sind. Halten Sie dennoch an Ihrer Aussage fest? 

Absolut. Schon vor zwölf Jahren habe ich gesagt, dass die Zinsen runter gehen werden und die Bedeutung der Aktie an sich immer mehr in den Vordergrund rückt. Corona und die Kriegssituation in der Ukraine hat die Aktie noch einmal alternativloser gemacht. 

Inwiefern? 

Wir haben im Moment steigende Zinsen, das ist korrekt. Ich möchte aber zunächst mal über die Inflation sprechen. Wir hatten ein halbes Jahrzehnt lang eine nicht vorhandene Inflation. Im Gegenteil, es gab sogar Deflationsrisiken, die von den Notenbanken durch das Drucken von neuem Geld bekämpft wurden. Jetzt hatten wir die Corona-Pandemie, die Welt stand still, man musste vor 24 Monaten noch 30 Dollar dafür zahlen, damit Ihnen jemand das Fass Öl abnimmt. Jetzt steht der Ölpreis bei über 100 Dollar. 

Was zeigt uns das? 

Die Inflation ist massgeblich durch die Lieferketten-Problematik entstanden. Wenn jetzt noch die höheren Energiepreise dazukommen, liegt es absolut in der Natur der Sache, dass bei der Inflation das Pendel vorübergehend auf die andere Seite überschlägt. Folgende Dinge sind für mich klar: Der Krieg wird irgendwann enden – wie das geschehen wird, ist eine separate Frage –, Russland wird von der Landkarte nicht verschwinden, Energie und Rohstoffe wird man weiter aus Russland brauchen und die Lieferkettenproblematik wird sich normalisieren. Ausserdem haben wir einen riesigen Konsumstau, der durch den Krieg unterbrochen wurde. 

Was bedeutet dies nun für die Zinsen und folglich für Aktien? 

Wir müssen hier die USA, Europa und die Schweiz separat betrachten. Die USA haben angekündigt, die Zinsen aggressiv anzuheben. Jetzt ist es Ende April und wir haben einen Trippelschritt von 25 Basispunkten gesehen. Selbst wenn bis Ende Jahr die angekündigten fünf bis sechs Trippelschritte dazu kämen, wären wir nur bei einem Zinsniveau von 1,5 bis 1,75 Prozent. Das ist historisch gesehen noch immer absolut lächerlich. Und: Da wir ja eine Inflation haben, die in den USA momentan bei 8 Prozent liegt, bekommen wir in eine neue Realität und eine Neubewertung der Aktie an sich. 

Wie sieht diese neue Realität aus? 

Die Notenbanken strebten immer eine Inflation von 3 Prozent an, mittlerweile akzeptieren sie aber auch eine Teuerung von 4 Prozent. Denn so können sich die Staaten massiv entschulden. Der Durchlauferhitzer läuft also, die Sparer werden enteignet und mit einer Inflation von 4 Prozent und einem Leitzins von 1,5 bis 2 Prozent werden wir noch immer einen sehr negativen Realzins haben. Das ist es, womit die die Unternehmen kalkulieren. Was die Zinsen betrifft, ist es inflationsbedingt also nur zu einer Verschiebung gekommen. 

Was heisst das für die anderen Notenbanken? 

Die Europäische Zentralbank (EZB) wird es wesentlich langsamer angehen lassen. Grund ist die Staatsverschuldung vieler EU-Länder, auch die Südeuropa-Problematik ist noch nicht verschwunden. Und in der Schweiz ist an Zinserhöhungen noch gar zu denken. Gleichzeitig ist klar: Wenn die Amerikaner zu stark aufs Gaspedal gehen, würde das den Dollar stärken, und das wollen die USA auch nicht. Daher wird man die Inflation gerne in Kauf nehmen, auch wenn sie langfristig 4 Prozent betragen sollte. Der weiter deutlich negative Realzins wird die Aktie noch einmal alternativloser machen. 

Trotzdem gab es an der Schweizer Börse zuletzt einige Opfer der steigenden Zinsen. So etwa hoch bewertete Halbleiter-Aktien wie VAT. Ist hier die Bewertungskorrektur ausgestanden?

Nicht nur bei VAT fand eine Korrektur statt, auch Inficon und die gesamte Halbleiterbranche ist unter Druck gekommen. Diese Aktien waren in der Tat sehr sportlich bewertet. Die Luft ist nun ein bisschen entwichen und die Bewertung moderat. Langfristig bin ich sehr bullish, was den gesamten Schweizer Halbleiter-Markt angeht. Hier geht der Daumen ganz klar hoch. Ich bin überzeugt, dass die Berichtssaison hier für sehr positive Überraschungen sorgen wird. 

Das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von VAT liegt noch immer über 40. Ist das nicht immer noch zu viel? 

Das KGV ist gerechtfertigt, weil VAT absolute Spezial-Nischen im Halbleiter-Bereich bedient. Auch das Wachstum der letzten drei Quartale rechtfertigt die Bewertung allemal. 

Eine Aktie, die schon weitaus länger unter Druck steht, ist Gurit. Der Verbundwerkstoff-Spezialist hat vor allem im Jahr 2020 von dem damaligen Clean-Energy-Hype profitiert. Doch seit Anfang 2021 ging es steil bergab. Seit Monaten dümpelt die Aktie vor sich hin. Wie geht es hier weiter?

Die Aktie befindet sich in einer vernünftigen Bodenbildung. Ich würde sogar sagen, dass der Prozess abgeschlossen ist. Gurit hat die Sparte Luft- und Raumfahrt in Deutschland erfolgreich abgestossen. Die Konzentration auf das Windgeschäft ist sehr vernünftig, da es die Margen definitiv stützt. Die Aktie befindet sich jetzt auf einem Turnaround-Level. 

Wie schätzen Sie den etwas grösseren Konkurrenten Schweiter ein? Auch hier hat die Aktie stark korrigiert.

Die Aktie war schon immer auf unserer Kaufliste. Wir müssen auch die Dividendenpolitik der Unternehmen berücksichtigen. Schweiter hat schon immer einen sehr stattliche Betrag ausgeschüttet. Die Dividende liegt bei fast vier Prozent. Das ist für einen Titel aus dieser Branche eine Menge Holz. 

Sie sind auch bei den Schweizer Versicherern investiert. Während man als Anlegerin oder Anleger mit Swiss Life und Zurich Insurance zuletzt gute Kurse-Renditen einfahren konnte, will es bei der Aktie von Swiss Re einfach nicht laufen. Noch immer notiert sie knapp 30 Prozent unter ihrem Vor-Corona-Niveau. Was läuft da schief? 

Bei Swiss Re sind viele Risiken eingepreist, die den Kurs belasten. Das Unternehmen ist sehr international aufgestellt, was unter Anlegern im derzeitigen Umfeld gewisse Ängste schürt. Natürlich agiert Swiss Life auch global, doch hier spielt der Immobilien-Charakter mittlerweile zunehmend eine positive Rolle. Bâloise, Helvetia oder auch Zurich kommt momentan zugute, dass sie regional sehr stark aufgestellt sind. In Krisen ist es immer so, dass heimische, sichere Häfen bevorzugt werden. Auch bei den Fremdwährungsrisiken ist Swiss Re exponiert, weil sie im Ausland stärker investiert sind. Daher spielt hier auch die Zins-Thematik eine Rolle. Doch bei Swiss Re gibt es auch eine andere Seite. 

Und zwar? 

Es ist völlig richtig, dass die Aktie heute auf dem Stand von 2013 notiert. Vor dem Hintergrund der Dividenden glaube ich jedoch nicht, dass jemand unglücklich ist, Swiss Re im Depot zu haben. Seit 2013 haben Aktionäre acht Mal eine Dividenden von etwa 6 Prozent bekommen, teilweise sogar höher. Dieses Jahr waren wir fast bei 7 Prozent. Durch den dadurch entstandenen Zinseszinseffekt hat sich eine Investition in Swiss Re immer bezahlt gemacht

Zuletzt tun sich mit Lonza und Givaudan auch zwei ehemalige Schweizer Börsen-Lieblinge schwer. Ist die aktuelle Kursschwäche hier eine Einstiegsgelegenheit?

Bei Givaudan muss man schauen, wie sich der gesamte Luxusmarkt entwickelt. Da wird das Ende des Kriegs entscheidend sein. Da muss man noch abwarten, bis sich an der Kriegssituation fundamental etwas ändert. Bei Lonza wurde der Kurs natürlich sehr geprägt von der Partnerschaft mit Moderna. Da sich die Pandemie – Gott sei Dank – langsam dem Ende zuneigt und damit auch die Impfung etwas in den Hintergrund rückt, ist klar, dass dies die Aktie belastet. Doch Lonza ist nicht gleich Impfung und Lonza ist auch nicht gleich Moderna. Es ist eines der innovativsten Unternehmen in der Schweiz, das in jedes breit diversifiziertes Portfolio gehört. 

Auch die Aktien der anderen Pharmazulieferer wie Bachem oder Polypeptide sind stark zurückgekommen. 

Polypeptide ist langfristig sicher ein Thema. Interessant finde ich, dass Bachem und Dottikon kurstechnisch etwas auseinander gedriftet sind, die Aktie von Dottikon ist weitaus besser gelaufen. Da dürften die kommenden Quartalsergebnisse besonders interessant werden. 

Ein weiterer «Fallen Angel» in der Schweiz ist die Aktie von Logitech. Lohnt es sich hier, zuzugreifen? 

Nein, da sind wir zurückhaltend. Logitech ist ein Top-Unternehmen mit einer sehr guten Produktpalette, keine Frage. Doch der Hype um die Aktie war der klassische Pandemie-Treiber, die Leute haben sich im Home Office neu ausgestattet. Jetzt wird man erstmal schauen müssen. 

Sika hingegen liefert seit Jahren kontinuierlich. Auch mit den letzten Quartalszahlen wurden die Erwartungen der Analysten geschlagen. Dennoch: Ist die Aktie zu hoch bewertet? 

Sika wird weiter liefern. Man darf aber nicht vergessen, dass die Aktie im Hoch bei 385 Franken stand. Jetzt ist sie im Zuge von Zins- und Kriegssorgen auf etwa 310 Franken zurückgekommen. Doch man muss – leider – sagen, dass ein Krieg immer ein künstlicher Push für die Konjunktur ist, auch wenn er sich zunächst immer erst negativ auswirkt. Das aktuelle Niveau bei Sika ist ein absoluter Einstiegskurs. 

Von welchen Schweizer Aktien sollten Anlegerinnen und Anleger momentan die Finger lassen? 

Wir bleiben weg von Solar-Titeln wie Meyer Burger und von den Grossbanken UBS und CS. Auch bei den Big Caps wie Novartis und Roche sind wir zurückhaltend. Beide Schwergewichte sind ja schon recht gut gelaufen, insbesondere Roche, auch weil es sehr beliebte Krisenhäfen sind. Doch irgendwann werden die Anleger diese sicheren Häfen verlassen und auf ein Ende der Pandemie und ein Ende des Kriegs blicken, und entsprechend wieder offensiver agieren. 

Bei welchen Aktien, über die wir jetzt noch nicht gesprochen haben, sehen Sie Chancen?  

Valora könnte als Turnaround-Kandidat sehr interessant werden. Das Unternehmen hatte während der Pandemie natürlich Probleme. Doch Dinge wie Brezelkönig laufen sehr gut. Jetzt haben sie das erste Mal wieder eine Dividende gezahlt. Ich habe immer gesagt, sobald Valora wieder eine Dividende ausschüttet und sich das Geschäft stabilisiert, wird die Aktie hochgehen. Ausserdem sind wir sehr bullish bei den Schweizer Dividenden-Titeln aus der zweiten Reihe.  

Welche wären das?

Wo soll ich da anfangen? Schweiter, Mobilezone, Cembra Money Bank, Kühne+Nagel, Bâloise oder Helvetia fallen mir da ein. Die gehören in jedes Depot. Auch die Kantonalbanken sind als Dividenden-Lieferant ein guter Bond-Ersatz. Gerade die Banque Cantonale Vaudoise (BCV) ist hier sehr spannend. Insgesamt erachte ich den Schweizer Aktienmarkt derzeit als extrem aussichtsreich. Er bietet momentan eigentlich alles, was man sich als Anleger im Ausland wünscht. Tiefe Zinsen und eine sehr stabile Währung machen den Schweizer Aktienmarkt zu einem Favoriten für eine Outperformance 2022.