Ricardo Soares da Silva bereut es nicht, seine Heimat Brasilien gegen die Schwäbische Alb und einen besser bezahlten Job als Elektrotechniker eingetauscht zu haben.
Der 36-Jährige aus Porto Alegre ist sich jedoch auch der zunehmend angespannten Atmosphäre in Bezug auf Ausländer bewusst, nachdem ein drastischer Anstieg der Asylbewerberzahlen in Deutschland zu einer migrationsfeindlichen Welle geführt hat, die von der AfD angeführt wird.
«Es ist einfach, hier zu arbeiten», sagt Soares da Silva, der eine Anstellung bei einem Familienunternehmen in Hohenstein-Oberstetten gefunden hat, das Fertighäuser baut. Was die Politik betrifft, so zeige die Geschichte Deutschlands, wie gefährlich dies sein kann», sagt er. «Wenn nötig, kehren wir in unsere Heimat zurück.»
Balanceakt für die Regierung
Sein Umzug ist Teil der grössten Anstrengung Deutschlands seit mehr als einem halben Jahrhundert, qualifizierte Ausländer für die Arbeitswelt zu gewinnen. Die Bundesregierung steht jedoch vor einem Balanceakt, da diese Bemühungen auf zunehmende Feindseligkeit gegenüber manchen Migranten stossen – insbesondere gegenüber illegal einreisenden. Deren Zustrom hat Bundeskanzler Olaf Scholz veranlasst, die Kontrollen an den Landesgrenzen zu verstärken und Verschärfungen im Asylrecht auf den Weg zu bringen.
Ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl steht für Scholz viel auf dem Spiel. Migration war das entscheidende Thema bei einer Reihe von Landtagswahlen, die für die von ihm geführte Ampelkoalition katastrophal ausgingen. Die AfD gewann die Wahlen in Thüringen — der erste Triumph einer Rechtsaussenpartei in einem deutschen Bundesland seit dem Zweiten Weltkrieg — und musste sich in Sachsen und Brandenburg nur knapp mit dem zweiten Platz begnügen.
Dies spiegelt auch den allgemeinen politischen Druck in der Europäischen Union wider: Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni drängte diese Woche bei einem Treffen mit ihren Amtskollegen in Brüssel auf strengere Regeln, um die Zahl der Migranten in die EU zu reduzieren. Die neue französische Regierung erwägt ein neues Einwanderungsgesetz, eine zentrale Forderung des Rassemblement National von Marine Le Pen, die de facto zum Zünglein an der Waage in einem stark gespaltenen Parlament geworden ist.
Wer Schutz benötige, müsse Schutz erhalten, sagte Scholz am Donnerstag auf dem EU-Gipfel. «Aber gleichzeitig gilt, dass nicht einfach jeder und jede kommen kann und dass wir uns auch aussuchen können müssen, wer kommt, in Bezug auf Arbeitskräfte- und Fachkräftemigration», so der Kanzler. Im vergangenen Jahr seien «mehr als 300'000 Frauen und Männer im Rahmen irregulärer Migration gekommen.»
Scholz strebt mit seinen Migrationsinitiativen eine Nettozuwanderung von 400'000 Menschen pro Jahr an, die Deutschland nach Schätzungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) braucht, um die ohnehin von schmerzhaften Anpassungsprozessen geplagte Wirtschaft am Laufen zu halten. Unterdessen schwinden seine Chancen auf eine Wiederwahl im kommenden Herbst und Parteien am rechten und linken Rand gewinnen mit einwanderungskritischer Rhetorik an den Wahlurnen an Zulauf.
«Die Ablehnung von Migration ist in einer Demokratie eine vertretbare Position. Dem kommt man bei, wenn man zeigt, dass es funktioniert», sagte Enzo Weber, Arbeitsmarktökonom am IAB. «Damit wird man den harten Kern der Rechten, die Migration ablehnen, natürlich nicht bekommen. Aber man kann die vielen erreichen, die sich selbst benachteiligt fühlen.»
Anzahl der Asylwerbenden hoch
Der Anteil der Ausländer am Arbeitsmarkt hat sich seit 2010 mehr als verdoppelt, aber erst die Flüchtlingskrise im Jahr 2015, als die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel mehr als eine Million Menschen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak willkommen hiess, schürte die Frustration insbesondere in den wirtschaftlich schwächsten Regionen. Seitdem hat sich die Zahl der Asylsuchenden auf den Rekordwert von 3,2 Millionen verdreifacht.
Merkels langjähriger Rivale und CDU-Parteichef Friedrich Merz schickt sich an, ihr Vermächtnis der offenen Tür in der Migrationspolitik zu begraben, während er versucht, seine Chancen zu erhöhen, Scholz 2025 aus dem Amt zu drängen.
Deutschland wird in den nächsten zehn Jahren aufgrund der demografischen Entwicklung sieben Millionen Arbeitskräfte verlieren. Gleichzeitig geht die Zahl der Zuwanderer aus den alternden EU-Nachbarländern zurück und die Bemühungen, Frauen und Ältere für den Arbeitsmarkt zu gewinnen, stocken. Bereits heute fehlen in Deutschland mehr als eine halbe Million Fachkräfte, was die Wirtschaft in diesem Jahr fast 50 Milliarden Euro kosten wird.
Scholz setzt auf die direkte Aushandlung von Migrationsabkommen mit ausländischen Regierungen, um Fachkräfte für Mangelberufe zu gewinnen. Dies ergänzt die bisherigen Bemühungen, Prozesse wie die Beantragung von Visa zu vereinfachen und im Ausland erworbene Qualifikationen anzuerkennen.
Deutschland als Exportland
Diesen Monat flog er nach Samarkand, um ein Abkommen zu unterzeichnen, das die Einreise von Usbeken nach Deutschland erleichtert, insbesondere um offene Stellen im Gesundheitswesen zu besetzen. Nächste Woche reist er nach Indien, nachdem sein Kabinett am Mittwoch eine Reihe von Massnahmen verabschiedet hat, die darauf abzielen, Arbeitskräfte vom boomenden Arbeitsmarkt im bevölkerungsreichsten Land der Welt anzuziehen. Im Gegenzug können Schulungen sowie eine Zusammenarbeit in den Bereichen Sicherheit oder Handel angeboten werden.
«Weltoffenheit ist für uns als Exportland enorm wichtig, nicht nur mit dem Blick auf die Fachkräfte, sondern auch mit Blick auf neue Märkte», sagte Scholz am Mittwoch in einer Rede zum 150-jährigen Jubiläum des Spezialchemikalienhändlers Brenntag in Essen.
Sein Plan erinnert an die 1950er- und 60er-Jahre, als Millionen Gastarbeiter aus Ländern wie der Türkei und Italien kamen, so Steffen Angenendt, Senior Fellow der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), der seit mehr als zwei Jahrzehnten deutsche Regierungen in Migrationsfragen berät.
«Damals war es weit akzeptiert, dass wir Arbeitskräfte brauchen. Es war offensichtlich, dass sonst keine Kohle mehr gefördert wird und Autos nicht zusammengeschraubt werden», sagte er. «Die Mehrheit der Bevölkerung sieht das heute auch wieder so.»
Kleinere Unternehmen, viele von ihnen Familienbetriebe, sind darauf angewiesen, dass die Strategie aufgeht.
Kultur-Anpassung wichtiger Faktor
Soares da Silva kam über ein Programm nach Deutschland, das Unternehmen bei der Anwerbung von Fachkräften aus Brasilien, Indien und Vietnam in Bereichen wie Elektrotechnik und IT unterstützt. Er ist der zweite Brasilianer bei SchwörerHaus, einem 1950 gegründeten Unternehmen mit rund 1'850 Mitarbeitern an sieben Standorten.
Personalchef Klaus Kornberger bezeichnete die Einstellung von Mitarbeitern aus dem Ausland als eine Investition, die sich in diesem Fall auszahle. Er versuche ständig, offene Stellen zu besetzen.
Eine Herausforderung besteht jedoch darin, Menschen zu ermutigen, in einem Land zu bleiben, das von ausländischen Arbeitnehmern schlecht bewertet wird. Laut einer Umfrage von InterNations gehört Deutschland zu den Ländern, die am schlechtesten benotet werden, wenn es darum geht, sich dort heimisch zu fühlen. Zwei Fünftel der Befragten fanden es schwierig, sich an die hiesige Kultur zu gewöhnen, und fast ein Drittel fühlte sich nicht willkommen. Die Arbeitsplatzsicherheit wurde hoch bewertet.
Taís Orestes, die einen Abschluss in technischer Physik und einen Doktortitel in Mikroelektronik hat, aber nicht fliessend Deutsch spricht, hat eine Stelle als Physikerin bei einem Unternehmen in Wiesbaden bekommen. Die 34-Jährige aus Rio Grande do Sul in Brasilien sagt, dass sie Schwierigkeiten hatte, deutsche Freunde zu finden.
Die Einheimischen seien «Ausländern gegenüber im Allgemeinen nicht sehr aufgeschlossen», sagt sie. «Wenn ich den gleichen Job in Brasilien hätte, würde ich zurückgehen.»
Ein anderer Landsmann von Soares da Silva, Davi Gonzaga da Silva, wartet in São Paulo auf eine Gelegenheit, nach Deutschland zu ziehen. Ihn schreckt die Atmosphäre dort nicht ab.
Er hat seinen Job gekündigt, nachdem er im November letzten Jahres in ein Programm aufgenommen wurde, das Mechatronikern und Mechanikern bei der Arbeitssuche in Deutschland helfen soll, und hat kürzlich eine wichtige Hürde genommen, indem er einen Sprachtest für Fortgeschrittene bestanden hat.
«Ich möchte mich beruflich weiterentwickeln», sagt Gonzaga da Silva, der für deutsche Unternehmen wie BASF in Brasilien gearbeitet und eine kurze Zeit in Italien verbracht hat. «Selbst wenn ich irgendwann in der Zukunft nach Brasilien zurückkehren muss, werde ich als qualifizierterer Fachmann zurückkehren.»
(Bloomberg/cash)