cash.ch: Die Welt divergiert geopolitisch in Blöcken auseinander. Was bedeutet dies für die Weltwirtschaft, für die Märkte und schlussendlich für Investoren?
Nannette Hechler-Fayd’herbe: Ich sehe keine einfache Zwei-Block-Konstellation wie im Kalten Krieg. Heute ist die Lage komplexer in unserer multipolaren Welt, in der aufstrebende Wirtschaften wie China, Indien und Indonesien eine bedeutende Rolle spielen. Diese Staaten streben nach mehr Souveränität, was sich in multilateralen Organisationen wie der UNO zeigt. Diese Mächte wollen ihre Interessen flexibel und unabhängig verfolgen, was die geopolitische Landschaft dynamisch und wandelbar macht.
Die Welt ist unberechenbar…
Sie ist komplexer. Für Anleger bedeutet das, sorgfältig zu überlegen, aus welcher Perspektive sie agieren. Geopolitische Entwicklungen und Entscheidungen können die Märkte gravierend beeinflussen. Auch die Realwirtschaft spürt diese Veränderungen, beispielsweise in den Lieferketten, die durch Ereignisse wie die COVID-19-Pandemie bereits betroffen sind. Investoren sollten daher ein ausgewogenes Portfolio mit regional diversifizierten und qualitativ hochwertigen Vermögenswerten anstreben. Unkorrelierte Anlageklassen können zur Risikoreduzierung beitragen und das Portfolio gegenüber unerwarteter Volatilität stabilisieren. Strategisch wichtige Investitionen, wie US-Aktien und hochwertige Anleihen, sind dabei entscheidend.
Die Börsen sind in diesem Jahr insbesondere in den USA stark gestiegen. Wie erklären Sie das angesichts der politischen und konjunkturellen Unsicherheiten?
Die Konjunktur hat sich dieses Jahr stark entwickelt. Anfang des Jahres gab es noch Sorgen wegen inverser Zinskurven und möglicher Rezessionen aufgrund der geldpolitischen Straffungen der letzten zwei Jahre. Diese Sorgen haben sich jedoch zunehmend reduziert, unterstützt durch positive Arbeitsmarktberichte, abgesehen vom August-Bericht in den USA, der kurzfristig Sorgen verursachte.
Wie spielt die Geldpolitik in diese Gemengelage hinein?
Mit abnehmenden Rezessionsängsten und sinkender Inflation konnten Zentralbanken ihre Zinsen senken, was den Märkten Auftrieb gab. Trotz politischer Unsicherheiten, wie dem britischen Budget, der französischen Verschuldung und den bevorstehenden Wahlen in den USA, haben sich die Märkte auf Wirtschaftsdaten und Unternehmensgewinne konzentriert. Auch geopolitische Risiken wie Konflikte im Mittleren Osten, die Auswirkungen auf Ölproduktionsstätten haben könnten, wurden bisher absorbiert.
Ist der Markt derzeit von der Realität abgekoppelt und ruhiger als sonst?
Nicht unbedingt. Geopolitische Entwicklungen sind oft nicht linear. Der Markt kann plötzlich kippen, besonders wenn regionale Konflikte wie im Nahen Osten grössere Ausmasse annehmen oder Supermächte involviert sind. Ein weiterer wichtiger Faktor ist der Einfluss auf die Rohstoffmärkte, insbesondere den Ölpreis, der immer noch einen erheblichen Makroeinfluss hat.
Sie haben die US-Wahlen angesprochen. Man nimmt teilweise an, dass ein Wahlsieg von Trump zu höheren Zöllen und Nachteilen für die europäischen Märkte führen könnte. Halten Sie das für realistisch?
Donald Trump verfolgt eine protektionistische Wirtschaftspolitik, die verschiedene Handelspartner betrifft, nicht nur China. Das könnte tatsächlich ein Risiko für den europäischen Exportsektor darstellen. Allerdings hat Trump in der Vergangenheit oft Kompromisse und Verhandlungen angestrebt. Es ist wahrscheinlich, dass er mit Zöllen Druck ausübt, um dann über Investitionen in die USA zu verhandeln.
Was bedeutet das für europäische Märkte?
Aktuell haben wir europäische Aktien in unserer regionalen Strategie untergewichtet, da sie Gegenwind spüren, nicht nur durch mögliche Handelskonflikte, sondern auch aus strukturellen Gründen. Allerdings sollte man nicht verallgemeinern: Märkte wie in Spanien oder Italien haben sich relativ gut entwickelt, auch wenn sie nicht so stark wie der US-Markt performen. Der französische Markt hat mehr Schwierigkeiten gehabt, während der DAX sich besser gehalten hat als die deutsche Realwirtschaft.
Wie sehen Sie die Gewinnerwartungen für nächstes Jahr? Sind sie realistisch?
Die Erwartungen sind weiterhin konstruktiv. Unternehmen profitieren davon, dass es keine Rezessionen geben wird und sie somit weiter wachsen können.
Glauben Sie, dass der geldpolitische Rückenwind anhalten wird?
Ja, das ist die allgemeine Erwartung. Allerdings könnte Donald Trump als Präsident das Inflationsszenario ändern. Er neigt zu inflationärer Wirtschaftspolitik, wodurch die US-Notenbank Fed möglicherweise weniger Zinssenkungen vornehmen kann. Unter Trump könnten die Fed-Funds-Rates bei etwa vier Prozent verharren, zumindest im ersten Jahr, was von der konjunkturellen Lage abhängt.
Das könnte enttäuschend sein…
Ja, das könnte zu Rückschlägen bei den Bewertungen führen, besonders in zins-sensitiven Sektoren wie zum Beispiel Technologie oder Kapitalgüter in den USA. Um diese aufzufangen, müssten die Unternehmensgewinne entsprechend stärker wachsen.
Und was ist mit der Verschuldungsproblematik? Die Debatte kocht wieder hoch. Manche beschwichtigen, andere warnen. Wo stehen Sie?
Eine hohe Schuldenquote allein löst keine Krise aus. In Frankreich, wo die Verschuldung zugenommen hat und die Budgetdefizite hoch sind, glauben wir nicht, dass dies eine Krise hervorrufen wird. Die Kreditmärkte haben aber reagiert, und die Spreads sind vergleichbar mit Spanien, was das Risiko angemessen widerspiegelt.
Wann wird es problematisch?
Krisen entstehen, wenn ein Land seine Schulden intern nicht bedienen kann, erkennbar an einem hohen Leistungsbilanzdefizit. Frankreichs Leistungsbilanzdefizit liegt unter einem halben Prozent des BIP, weit entfernt von den problematischen 5 bis 6 Prozent. Strukturelle Leistungsbilanzdefizite haben derzeit die USA und Grossbritannien, beide um die 3 Prozent des BIP, ebenfalls weit entfernt von kritischen Niveaus. In Europa hat nur Griechenland ein hohes Leistungsbilanzdefizit, doch auch dort wurden grosse Anstrengungen unternommen, um Budgetüberschüsse zu erzielen.
Gehen Sie davon aus, dass die Marktumgebung über die Wahlen hinaus freundlich bleibt?
Grundsätzlich schon. Rückschläge können jederzeit auftreten, besonders im hochbewerteten US-Aktienmarkt. Diese sollten jedoch als Chancen gesehen werden, sich für den positiven Ausblick zu positionieren. Wenn Märkte um mehr als 20 Prozent in einem Jahr gestiegen sind, freuen sich Anleger über Gelegenheiten, günstiger einzukaufen.
Wie sehen Sie den Schweizer Markt?
Grundsätzlich bieten 10-jährige Eidgenossen mit weniger als 0,5 Prozent Rendite nur begrenzt attraktive Alternativen. Die Gewinnrendite auf dem Schweizer Aktienmarkt stellt sich da deutlich attraktiver dar und bietet eine vernünftige Risikoentschädigung (Equity Risk Premium). Daher ist auch für die Schweiz ein freundlicher Ausblick gerechtfertigt. Sollte der Industriesektor in Europa im nächsten Jahr wieder positive Tendenzen zeigen, würde dies auch dem Schweizer Aktienmarkt zugutekommen.
Welche Marktrisiken werden derzeit unterschätzt?
Generell sind Risiken momentan nicht stark im Markt eingepreist. Der Volatilitätsindex VIX ist durchschnittlich. Der Cash-Anteil bei Investoren ist tief. Die Ölpreise sind tiefer als zuvor. Der japanische Yen ist schwach. Einzig der hohe Goldpreis und der starke Schweizer Franken signalisieren eine gewisse Marktunsicherheit.
Geht der Aufschwung bei Gold weiter?
Wir erwarten, dass das Umfeld für Gold positiv bleibt, da Zentralbanken weiterhin grosse Käufer sind. Selbst bei Entschärfung aktueller Konflikte dürfte sich dieser Trend fortsetzen, unterstützt durch fallende Realzinsen und einen stabilen, aber nicht stärker werdenden Dollar. Dies sollte auch die Nachfrage von Privatanlegern nach Gold anregen.
Sollte man jetzt noch auf Wachstum setzen oder auf Zykliker umsteigen?
Wir sehen Zykliker wieder positiver. Beispielsweise bevorzugen wir aktuell den japanischen Markt, der zyklischer Natur ist. Auch innerhalb der Sektoren sind wir bei Energie und Materialien optimistisch, wobei Industriewerte noch nicht in unserem Fokus stehen.
Wie beurteilen Sie klassische Wachstumswerte, insbesondere im Technologiesektor und im Zusammenhang mit KI?
Wir sind derzeit neutral gegenüber dem Technologiesektor. Es gibt zwar interessante Unternehmen, doch die Bewertungen sind bereits hoch. Komplett auszusteigen wäre jedoch riskant, daher halten wir eine neutrale Position.
Was ist mit Rebalancing nach unerwartet hohen Returns?
Unerwartet hohe Renditen sollten durch Rebalancing gesichert werden. Dies bedeutet, Gewinne mitzunehmen und entweder Liquidität aufzubauen oder in weniger stark gelaufene Alternativen zu investieren. Unternehmensanleihen, besonders in den USA, bieten derzeit attraktive Renditen.
Wie stehen Sie zu Dividendentiteln angesichts fallender Zinsen?
Qualitätsdividendentitel bleiben attraktiv, besonders bei fallenden Zinsen. Sie sind weiterhin Teil unserer Überzeugungen.
Die Inflation befindet sich weltweit auf dem Rückzug. Wird die Teuerung zukünftig wieder ein Thema sein?
Ich denke, in einer multipolaren Welt mit anhaltenden Interessenkonflikten wird die Inflation ein dauerhaftes Thema sein. Es wird Momente geben, in denen die Inflation wieder ansteigt. Betrachtet man die Anatomie der Inflation, erkennt man, dass es Güterinflation gibt, die stark auf spezifische Faktoren wie Ölpreise reagiert. Dann gibt es noch die Dienstleistungsinflation, die auf die Arbeitsmärkte reagiert. Wenn sich dort Änderungen ergeben, zum Beispiel durch die Migrationspolitik, die indirekt die Arbeitsmärkte über die Verfügbarkeit von Arbeitskräften beeinflusst, kann Dienstleistungsinflation schnell wieder auftreten.
Was bedeutet dies für die Zinsen?
In einer Zeit, in der die Wirtschaftspolitik weit über die Geldpolitik hinausgeht und aktiv in Aussenhandel, Fiskalpolitik und sogar Klimapolitik eingreift, können diese Faktoren erheblich zur Preisvolatilität beitragen. Die Rückkehr der Inflationsprämie – also die Entschädigung der Unsicherheit bezüglich der künftigen Inflation – wird weiterhin in den Zinssätzen sichtbar bleiben.
Frau Hechler-Fayd’herbe, Sie haben umfangreiche Erfahrung im Investieren. Welche Börsenweisheit halten Sie für besonders wichtig?
Ein weiser Ratschlag ist, pragmatisch vorzugehen und zunächst die Bewertungen der Aktien genau zu betrachten. Es ist wichtig, die Treiber hinter diesen Bewertungen zu verstehen und zu beurteilen, ob sie im Vergleich zu anderen Alternativen sinnvoll sind. Dabei sollte man stets bodenständig bleiben. Investitionen sollten nur in Bereiche getätigt werden, die man wirklich versteht. Dies gilt auch, wenn neue Trends wie Künstliche Intelligenz aufkommen. Wenn man nicht genau nachvollziehen kann, wie diese zu Produktivitätsgewinnen führen, ist Vorsicht und Pragmatismus geboten. Wo Nachfrage sich aber in Gewinnen wiederspiegelt, sind auch Chancen.
Nannette Hechler-Fayd’herbe ist seit Januar Leiterin Anlagestrategie, Nachhaltigkeit und Research sowie Investmentchefin für Europa, den Nahen Osten und Afrika bei Lombard Odier. Vor ihrem Wechsel zu Lombard Odier war sie lange Jahre bei der Credit Suisse tätig, und zwar als CIO Emea und Leiterin Economics & Research in der Division Wealth Management. Zudem war sie Mitglied des Verwaltungsrats der Pensionskasse von Credit Suisse Schweiz und mehrere Jahre Vorstandsmitglied der International Capital Markets Association. Hechler-Fayd’herbe promovierte an der Universität Lausanne und ist Absolventin der École des Hautes Études en Sciences Sociales, Paris.