Seit dem Jahreswechsel 2021/2022 geht es bei den Aktien von Nestlé kontinuierlich abwärts. 23 Prozent ist die Aktie seither gesunken, allein 8 Prozent in diesem Jahr. Das ist enorm viel Verlust für die Rendite-Maschine Nestlé, dessen Aktie von 37 Franken im Jahr 2009 bis auf einen Rekord von fast 130 Franken Ende 2021 gestiegen war. In den letzten 20 Jahren beträgt die Kursrendite knapp 450 Prozent.

Kein Wunder hat sich seit Ende 2021 auch der Swiss Market Index (SMI) tendenziell rückläufig entwickelt. Denn Nestlé ist vor den Pharmakonzernen Roche und Novartis mit 23 Prozent der Gesamtkapitalisierung das absolut grösste Schwergewicht im Schweizer Leitindex.

Anleger rätseln über die Kurserosion. Den Hauptgrund dafür sieht Patrik Schwendimann, Analyst bei der ZKB, in den stark gestiegenen Langfristzinsen. Die Rendite der zehnjährigen US-Staatsanleihen lag Ende Dezember 2021 noch bei 1,5 Prozent und ist im Oktober 2023 vorübergehend auf 5,0 Prozent gestiegen - der höchste Stand seit 2007. Obligationen stehen in Konkurrenz zu Aktien, eine höhere Obligationenrendite drückt dementsprechend auf deren Bewertung.

Nestlé hat dies besonders getroffen, diente die Aktie zuvor doch vielen als Obligationenersatz. Die Bewertung von Nestlé lag Ende 2021 gemessen am vorausschauenden Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) bei 27 und ist aktuell auf 20 gesunken.

Doch allein anhand der Zinsentwicklung lässt sich die Kursschwäche nicht erklären: «Die stark gestiegenen Inputkosten haben dazu geführt, dass die Bruttogewinnmarge von 2020 bis 2022 um fast 400 Basispunkte gesunken ist und deshalb auch die bereinigte EBIT-Marge um 60 Basispunkte rückläufig war», sagt Schwendimann zu cash.ch.

Zudem ist auch die Mengenentwicklung (RIG) wegen der unüblich hohen Inflation seit dem dritten Quartal 2022 rückläufig. Ebenso wird nach leicht negativen Effekten 2021 und 2022 die Aufwertung des Schweizer Frankens 2023 gemäss den Schätzungen des ZKB-Analysten zu einem negativen Währungs-Einfluss von 7,4 Prozent auf den Umsatz von Nestlé führen. 

Abnehm-Spritzen: Viel Wirbel um nichts?

Auch Angst vor den Folgen von Abnehm-Spritzen auf die Nahrungsmittelindustrie belasteten den Kurs der Nestlé-Aktie. «Ich denke, dass hier sicherlich in der langen Frist ein Effekt eintreten wird. Aber momentan ist es sehr schwer zu bestimmen, wie gross dieser sein wird und wann dieser spürbar eintreffen wird», sagt Pascal Boll, Analyst von Stifel, zu cash.ch. 

Ähnlich klingt es bei Schwendimann zu diesem Thema: «Es ist nicht das erste Mal, dass ein plötzlicher neuer Trend in den USA kurzfristige negative Auswirkungen auf die Lebensmittelunternehmen hat. Bislang waren diese nie von langer Dauer. Doch dieses Mal könnten die Auswirkungen länger anhalten.» Dies, weil die Abnehm-Spritzen nicht nur eine neue weitere Diät seien, sondern den Appetit tatsächlich auch reduziere.

Nestlé hat sicherlich den Vorteil, dass die wichtigsten Produktkategorien - Kaffee, Tiernahrung, Nutrition - davon nicht betroffen sind. Auch Wasser und der Grossteil der Milchprodukte stellen diesbezüglich kein Problem dar. Die theoretisch tangierten Kategorien sind Fertiggerichte (13 Prozent des Umsatzes) und Süsswaren (8 Prozent des Umsatzes und sehr begrenztes Engagement in den USA). Nestlé selbst behauptet, dass nur 15 Prozent des globalen Portfolios betroffen sei, somit werde der Effekt kaum 1 Prozent des Volumens ausmachen.

Sollten sich die Nebenwirkungen bei Abnehm-Spritzen als zu gross erweisen oder sollte die Übernahme der hohen Kosten nicht gelöst werden, dann kann die Thematik rascher als erwartet wieder aus den Schlagzeilen verschwinden. Es könnten sich auch neue Geschäftsfelder ergeben. Nestlé hat zuletzt angekündigt, bereits neue Produkte zur Unterstützung der Gewichtskontrolle nach der Einnahme der genannten Medikamente zu entwickeln.

Boll von Stifel sieht die Gefahr für Nestlé, die von den fett-Weg-Spritzen lauert, insgesamt als gering an: «Ich halte den befürchteten Effekt für übertrieben und glaube, dass der Effekt der Zinssituation, sowie negative Wechselkurseffekte auf die Aktienkursperformance überwiegt», so Boll, der die Nestlé-Aktie mit einem Kursziel von 125 Franken zum Kauf empfiehlt.

Nestlé mit hausgemachten Problemen

Neben diesen vier externen Gründen gibt es aber auch hausgemachte Gründe für die Kursschwäche: Die Probleme bei Nestlé Health Science beispielsweise. Der Bereich hat in den vergangenen zwei Jahren enttäuscht. Dieser steuert zwar nur 7 Prozent zum Umsatz bei, ist jedoch ein von Nestlé definierter Wachstumsbereich. In den ersten 9 Monaten 2023 verzeichnete Nestlé Health Science nur ein organisches Umsatzwachstum von 2,5 Prozent (Konzern plus 7,8 Prozent) wegen IT-Problemen und einer hohen Vorjahresbasis.

CEO Mark Schneider hat wohl einen sehr guten Job gemacht, was die Verkäufe von wachstums- und margenschwachen Geschäftszweigen anbelangt. Nicht zuletzt deswegen hat sich auch das organische Wachstum substanziell erhöht vom niedrig einstelligen Bereich der Jahre vor 2017. Bei den Zukäufen sind Schneider ein paar sehr gute Käufe gelungen. Dies gilt vor allem für das Kaffee-Handelsgeschäft von Starbucks, wo sich die Verkäufe seit der Akquisition verdoppelt haben.

Die Bilanz bei den Zukäufen ist allerdings durchzogen, wo die Beispiele von Freshly und Palforcia zeigen, dass auch Mark Schneider nicht vor Fehleinschätzungen gefeit ist. Eine von Mark Schneiders Hauptwetten auf die Zukunft, das Vitamin-, Mineral- und Supplementengeschäft, musste zuletzt einen Rückschlag hinnehmen und sollte die gesteckten Ziele erst ein halbes Jahr später - Mitte 2026 - erreichen. «In Summe, sicherlich eine aussergewöhnliche Leistung, die aber zuletzt etwas von kleinen Fehltritten überschattet wird», resümiert Boll 

Die beiden genannten Akquisitionen seien sicherlich die offensichtlichsten Fehltritte von Nestlé, während sich noch zeigen müsse, ob sich bei den Vitaminpräparaten der erhoffte Wachstums- und damit verbundene Profitbalitätserfolg einstellen werde, so Boll weiter. Im schlechtesten Fall bleibe das Wachstum aus und es stelle sich in Retrospektive heraus, dass Nestlé die Bountiful-Marken auf dem Peak zu entsprechend hoher Bewertung gekauft habe. Dies würde dem Ansehen von Mark Schneider deutlich schaden.

Erfolgreiche Transformation trotz Volumenrückgängen?

Ein anderes Thema, das zuletzt in den Vordergrund gerückt ist, sind die Volumenrückgänge in Folge der Preiserhöhungen. «Hier war Nestlé zwar keine Ausnahme, hat sich aber im internationalen Vergleich gut geschlagen», sagt Schwendimann. Dies lässt sich auch bei der Kursentwicklung ablesen. Die Mehrheit der internationalen Konkurrenten wie Kraft Heinz, Unilever, Coca Cola, PepsiCo, Hershey, General Mills oder Keurig Dr Pepper hat umgerechnet in Schweizer Franken bei der Kursentwicklung 2023 noch schlechter abgeschnitten als Nestlé.

Auch haben sich im dritten Quartal die Volumen weiter sequentiell verbessert und wichtige Produktgruppen wie Nespresso und Tierfutter sind mit positivem Volumen-Mix gewachsen. «Das stimmt positiv, dass Nestlé wie erwartet im vierten Quartal auf Gruppenebene positives RIG-Wachstum ausweisen wird», sagt Boll.

Nestlé befindet sich zudem in der Transformation hin zu einem wachstums- und margenstärkeren Unternehmen. Der Umsatzanteil der attraktivsten Bereiche Kaffee, Heimtiernahrung und Nutrition ist seit 2010 von 44 auf 64 Prozent gestiegen. Zählt man noch den margenstarken Milchpulverbereich und die margen- und wachstumsstarke Marke Maggi hinzu, dann erzielt Nestlé heute bereits 80 Prozent des Umsatzes in sehr attraktiven Bereichen. 

Alles Bereiche also, bei denen Nestlé eine starke Marktposition einnimmt und die im Normalfall überdurchschnittlich wachsen oder üblicherweise eine EBIT-Marge von mindestens 20 Prozent aufweisen. «Die strategische Ausrichtung von Nestlé erachte ich als attraktiv. Nestlé musste im Bereich Nestlé Health Science Lehrgeld bezahlen, hat jedoch aus den Fehlern gelernt», so Schwendimann.

Boll von Stifel fügt an: «Trotz Rückschläge ist Nestlé eines der besten zukunftsgerichteten Unternehmen. Das Exposure zu attraktiven Kategorien wie Kaffee, Tierfutter und Gesundheitsnahrungsmittel stimmt und sollte dem Unternehmen helfen, schneller als die Konkurrenz über die nächsten Jahre zu wachsen», argumentiert er. Dabei sei auch die unvergleichbare Markenbildende Kraft und das Vertriebsnetz als vorteilhaft zu nennen.

Gelegenheit zum Kauf

Ein überdurchschnittliches organisches Wachstum sieht der Stifel-Analyst als gösste Chance bei Nestlé, während gleichzeitig eine anhaltende Volumenschwäche in der kurzen Frist, welche unterhalb der Erwartungen liegt, als Risiko genannt wird. Schwendimann legt den Fokus auf die entspannte Situation bei den Inputkosten, die 2024 und 2025 wieder eine klare Bruttogewinnmargenverbesserung zulassen und wieder RIG-Wachstum (Menge und Mix) ermöglichen sollten.

Auch nicht mehr steigende oder sogar rückläufige Langfristzinsen und weitere Fortschritte bei der Transformation durch Devestitionen und Akquisitionen sollten dem Aktienkurs zugutekommen. Die ZKB sieht den fairen Wert für den Titel gemäss DCF-Modell bei 129 Franken, die Einstufung lautet "Übergewichten".

Mit ihren optimistischen Einschätzungen sind die beiden Analysten nicht allein: 19 von 28 der bei Bloomberg erfassten Analysten empfehlen die Aktie von Nestlé zum Kauf. Das durchschnittliche Kursziel liegt bei 117,3 Franken, was knapp 18 Prozent über dem aktuellen Niveau liegt.

Anlegerinnen und Anleger sollten auch aus einem anderen Grund als dem Kurspotenzial ein Investment in Betracht ziehen: Nestlé gehört in der Schweiz mit 28 Dividendenerhöhungen in Folge eindeutig zu den Dividenden-Aristokraten. Der Nahrungsmittelkonzern aus Vevey gilt sogar als verlässlichster Dividendenzahler an der Schweizer Börse. Die aktuelle Dividendenrendite liegt bei 2,95 Prozent.

Für Anlegerinnen und Anleger bieten die derzeit «tiefen» Kurse bei diesem defensiven Schwergewicht die Möglichkeit, den Anteil an Nestlé-Aktien im Portfolio aufzustocken oder erstmals beim Nahrungsmittelkonzern einzusteigen. Dabei muss aber auch klar sein, dass ein unerwarteter Anstieg der Langfristzinsen, Inputkosten und des Schweizer Frankens oder unvorhergesehene Wachstumsprobleme den Kurs zumindest weiter belasten können. 

ManuelBoeck
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