Der in dieser Woche vollzogene Führungswechsel von Mark Schneider zu Laurent Freixe bei Nestlé verdeutlicht die strukturellen Herausforderungen, vor denen der weltgrösste Nahrungsmittelkonzern seit etwa 18 Monaten steht. Es eröffnet ein neues Narrativ und nährt die Hoffnung vieler Anlegerinnen und Anleger, das der seit dem Allzeithoch Anfang 2022 bestehende Abwärtstrend am Aktienmarkt zu Ende geht.

Allein 2024 haben die Aktien von Nestlé 8 Prozent verloren, während der Gesamtmarkt gemessen am Swiss Market Index (SMI) 12 Prozent angezogen hat - ein Performanceunterschied von 20 Prozentpunkten. 

Jetzt übernimmt ein langjähriger Nestlé-Veteran das Ruder, einer, der Ruhe nach Vevey bringen soll. Doch die Herausforderungen sind gross: «Die aktuelle Schwäche ist auf das organische Umsatzwachstum und das interne Realwachstum (RIG - Volumen und Mix) von Nestlé zurückzuführen, das bis zum zweiten Quartal 2024 relativ schwach war», sagt Jean-Philippe Bertschy, Leiter Research Schweizer Aktien bei Vontobel, gegenüber cash.ch. 

Die Prognosen von Nestlé seien sowohl für das Geschäftsjahr 2023 als auch für das Geschäftsjahr 2024 in einem derart schwierigen und volatilen Umfeld zu optimistisch ausgefallen. Im Juli aktualisierte das Unternehmen seine Umsatzwachstumsprognose für das Geschäftsjahr 2024 von «rund 4 Prozent» auf «mindestens 3 Prozent». Eine Prognose von 3 bis 5 Prozent wäre laut Bertschy zu Beginn des Jahres angemessener gewesen und hätte im Einklang mit anderen Unternehmen gestanden.

Man könnte auch sagen: Nach den Pandemiejahren mit erheblichen Preiserhöhungen befindet sich Nestlé in einer Phase der «Normalisierung». Das Wachstum von Markenprodukten reduziert sich momentan. Die 31 sogenannten «Billionaire Brands», die jeweils über eine Milliarde Umsatz generieren und zusammen rund 70 Prozent des Gesamtumsatzes ausmachen, wuchsen organisch um 3,2 Prozent. Dazu gehören Marken wie Nescafé, Purina, KitKat, S. Pellegrino oder Maggi.

Portfolioveränderungen, höhere Verschuldung und fehlerhafte Vergleiche

Obwohl das Unternehmen in den letzten Jahren 25 Prozent seines Portfolios durch Desinvestitionen und Übernahmen verändert hat, ist die Umsatzdynamik auch für Alexandre Stucki, Fondsmanager des Cadmos Swiss Engagement Fonds, nicht ermutigend. «Die Gesamtkapitalrendite nach Abschreibungen und Restrukturierungskosten liegt bei etwa 11 Prozent und ist im Branchenvergleich durchschnittlich. Hohe Kosten haben die tatsächliche Rentabilität des Konzerns beeinträchtigt», so der Experte gegenüber cash.ch.

Der Abteilung Nestlé Health Science wurden beispielsweise viel Kapital und Humanressourcen zugeteilt, jedoch mit fragwürdigem Erfolg. Die Abschreibungen und Kosten auf den Firmenwert geraten laut Marktbeobachtern ausser Kontrolle. Gleichfalls hat man der immer sehr soliden Bilanz eine höhere Verschuldung aufgebürdet - der Verschuldungsgrad ist innerhalb von zehn Jahren von 30 auf gut 150 Prozent gestiegen.

Ein Vergleich mit der Konkurrenz bietet dabei keine Einsicht, was Nestlé besser machen könnte. Denn man stellt Äpfel Birnen gegenüber. Nestlé, Danone oder Unilever haben unterschiedliche Produktkategorien und geografische Profile. Unilever ist in erster Linie im Home- und Personal Care-Geschäft tätig, während Lebensmittel nur noch einen kleinen Teil des Geschäfts ausmachen.

Interessanter ist es, die Entwicklung des Umsatzwachstums in den verschiedenen Produktkategorien zu verfolgen. Hier ergibt sich ein etwas anderes Bild, sei es bei Heimtierprodukten, Süsswaren oder Kaffee: Nestlé übertrifft weiterhin seine Hauptkonkurrenten. Beispielsweise liegt das Wachstum bei Süsswaren mit 7,0 Prozent im Einklang mit dem von Lindt&Sprüngli, aber deutlich vor dem von Mondelez mit plus 2,5 Prozent oder Hershey mit minus 2,9 Prozent.

Nestlé erscheint günstig

Fakt ist auch, dass Nestlé bei einem vorwärtsgerichteten Kurs-Gewinn-Verhältnis von 18 als günstig erscheint. Die temporäre Bewertungsprämie im Vergleich zu Wettbewerbern hat sich reduziert, was das Chance-Risiko-Verhältnis attraktiver macht. Nestlé bleibt der grösste Nahrungsmittelproduzent der Welt und ist entsprechend krisenfest. Das Unternehmen verfügt immer noch über starke Konsummarken. Neben dem laufenden Aktienrückkauf bietet Nestlé eine Dividendenrendite von 3,5 Prozent. Alles Argumente, die für den Titel sprechen, aber das Grundproblem nicht lösen.

«Nestlé wird die Anleger davon überzeugen müssen, dass ihr derzeitiges Produktportfolio in den nächsten Jahren ein Wachstum im mittleren einstelligen Bereich erzielen kann», argumentiert Bertschy. Der Handlungsspielraum sei sehr eng geworden. Der Experte vertraut darauf, dass das Unternehmen die Herausforderung annimmt und den Aktionsplan sowie die Cash-Generierung umsetzt.

Die von Bloomberg befragten Analysten bleiben zwar insgesamt positiv gegenüber der Aktie, haben aber mit dem Kursrückgang die Kursziele kontinuierlich zusammengestrichen. Und auch der Fondsmanager von Cadmos bleibt trotz der niedrigeren Bewertung vorsichtig bis pessimistisch, was die Chance für ein langfristiges Investment angeht: «Angesichts des sich ständig ändernden Konsumentengeschmacks von heute ist nichts weniger sicher. Der Erfolg von Nespresso ist nicht so leicht nachzuahmen.»

«In einer Welt, in der Gesundheit und Wohlbefinden immer mehr im Vordergrund stehen, sollte der Fokus auf gesunden und profitablen Lebensmitteln liegen. Besonders unter dem Motto ‹Good Life. Good Food›», so Stucki. Nestlé sollte beispielsweise sein Nährwertprofilierungssystem NutriScore nutzen, um mehr in die richtigen Produktkategorien zu investieren.

Rückkehr zu den Wurzeln

Bertschy von Vontobel spricht sich hingegen für eine Rückkehr zu den Wurzeln aus: Nestlé sollte ein Konsumgüterunternehmen mit starken Marken sein, das sich wieder mit den Konsumenten verbindet, ihre Bedürfnisse antizipiert und ihr Verhalten versteht. Die bevorstehenden Investorentage Ende November werden eine erste Gelegenheit bieten, dies unter der neuen Führung zu tun und den nächsten strategischen Fahrplan sowie die Finanzziele bekannt zu geben.

Ähnlich optimistisch ist Simon Jäger, Portfoliomanager beim deutschen Vermögensverwalter Flossbach von Storch: «Wenn sich die Schwankungen bei Preisen und Nachfrage wieder legen, wovon wir ausgehen, wird auch die Nestlé-Aktie wieder in ruhigeres Fahrwasser kommen. Darüber hinaus dürfte ein Fokus auf das Bestandsgeschäft und eine geringere Umtriebigkeit in Bezug auf Akquisitionen dem Geschäft helfen.»

Manchmal liegt der Mehrwert für den Shareholder Value in einer besseren Umsetzung dessen, was bereits vorhanden ist, und nicht darin, ständig neue Geschäftsfelder zu erschliessen. Gerade hier könnte der CEO-Wechsel wirklich neue Impulse und schlussendlich höhere Kurse bringen. In diesem Sinne wäre es nicht überraschend, wenn das Schneider-Abenteuer Nestlé Health Science mittelfristig verkauft wird.

ManuelBoeck
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