Experten wie Nikhil Choraria von Goldman Sachs entwerfen oft komplexe Transaktionen, die von Änderungen der Inflationsdynamik profitieren. Der grösste Inflationsschub seit Jahrzehnten verhalf dem Bereich informierten Kreisen zufolge 2021 allein bei der Wall-Street-Bank zu rund 450 Millionen Dollar an Ertrag und damit dem Doppelten des Volumens der Vorjahre. Chorarias Team profitierte von der korrekten Vorhersage der europäischen Inflationsentwicklung im Gefolge der Pandemie, wie damit vertraute Personen berichten.
Bei JPMorgan Chase in New York hat Gil Holmes, Chef der Abteilung Non-Linear Rates, im vergangenen Jahr rund 300 Millionen Dollar mit dem Inflationshandel verdient. Wie zu hören ist, profitierten auch Trader bei Barclays und Morgan Stanley.
Laut Daten der Vali Analytics haben die grössten Wall-Street-Banken 2021 rund 2,3 Milliarden Dollar im Geschäftsbereich verdient und damit mehr als das Doppelte des Volumens im Jahr 2019.
Grosse Risiken umfasst das Geschäft allerdings auch. Der Sterling-Inflationsmarkt zum Beispiel wird als “Witwenmacher” bezeichnet. Angesichts vieler, unübersichtlicher Faktoren bei der Entwicklung der Preise drohen Händlern, die sich verkalkulieren, enorme Verluste. Der Markt ist zudem so klein und spezialisiert, dass schon einige Personalwechsel es schwierig machen können, jemanden zum Handeln zu finden.
Es ist kein Markt für schwache Nerven. Für diejenigen, die die Herausforderungen meistern können, ist die Inflation jedoch eine Goldgrube geworden, da steigende Energiekosten und festgefahrene Lieferketten die Kosten für so ziemlich alles in die Höhe getrieben haben.
Nach der Finanzkrise von 2008 waren die Zinsen auf beispiellos niedrige Niveaus gesenkt und dort gehalten worden. Ein Schlüsselfaktor für die Inflationsvolatilität fiel damit weg und das Geschäft wurde zu einem Nebenkriegsschauplatz. “Ziemlich langweilig”, wie sich Tim Magnusson, Chief Investment Officer beim Hedgefonds Garda Capital Partners erinnert.
Grafik: Bloomberg
Inzwischen strömen die Anleger in Scharen ins Segment, um ihre Investments zu schützen oder darauf zu spekulieren, wie sich die Verbraucherpreise entwickeln könnten. Das mittlere Handelsvolumen mit inflationsgebundenen Staatsanleihen und Derivaten pro Sitzung ist im Vergleich zum Vorjahr um 30 Prozent gestiegen, wie Daten der Tradeweb Markets in London zeigen. Gegenüber 2019 hat es sich mehr als verdoppelt.
“Die Anleger von festverzinslichen Wertpapieren werden immer nervöser, da sie glauben, dass das Nullzinsumfeld vorbei ist, da müssen sie sich auf diese Art von Investments verlegen”, sagte Peter Hahn, ehemaliger Banker bei Citigroup und heute emeritierter Professor am Londoner Institute of Banking & Finance. “Und das wird der Wall Street Geld einbringen.”
In den USA ist der Verbraucherpreisindex im Januar auf 7,5 Prozent geklettert, den höchsten Stand seit 1982. Damals war Goldman-Spezialist Choraria noch nicht einmal geboren. In Grossbritannien läuft jeder Zehnte inzwischen Gefahr, sich nicht mehr kontinuierlich Heizung und Strom leisten zu können. In der Europäischen Union setzen viele Regierungen auf Hilfspakete, um den Bürgern bei der Bewältigung der steigenden Rechnungen entgegenzukommen. Mit kletternden Preisen haben Haushalte von Lateinamerika bis Südasien zu kämpfen.
Die Zentralbanken auf der ganzen Welt erörtern indessen, wie weit sie die Zinsen anheben sollten, um den Druck etwas abzuschwächen, dabei zugleich aber nicht Gefahr laufen, die wirtschaftliche Erholung zu gefährden. Die Händler von Inflationsderivaten versuchen derweil, frühzeitig den Höhepunkt der Teuerung zu erkennen. Während sich die Erwartungen zur britischen Inflation dem höchsten Stand seit 2009 nähern, haben die Sorgen in den USA und Europa gegenüber dem letzten Jahr bereits nachgelassen.
“Das Interesse an den Inflationsmärkten ist grösser als alles, was wir in den letzten 10 Jahren gesehen haben, und wir glauben, dass wir gerade erst am Anfang stehen”, sagt die ehemalige Inflationstraderin Lindsay Politi, die inzwischen für One River Asset Management in Greenwich, Connecticut, arbeitet. “Die Marktteilnehmer müssen das Regime, in das wir gelangt sind, erst noch richtig erkennen. Die meisten Marktbeobachter erwarten seit über einem Jahr, dass die Inflation wieder auf ein normales Niveau zurückgeht, und das hat sich nicht bewahrheitet.”
Grafik: Bloomberg
Inflationsgebundene Anleihen lassen sich bis ins Jahr 1780 zurückverfolgen. Damals gab sie der Commonwealth of Massachusetts an Soldaten aus, die im Revolutionskrieg kämpften, um sie vor steigenden Preisen zu schützen. Zwei Jahrhunderte später begann Grossbritannien mit der Emission ähnlicher Wertpapiere, die heute als Linker bekannt sind. 1997 folgten die USA mit Treasury Inflation-Protected Securities (TIPS). Auch an die Inflation gebundene Derivate, wie Inflationsswaps, kamen auf.
Beispiel Nullkupon-Inflationsswaps. Bei ihnen ist ein Festzins für den Emittenten gekoppelt mit einem variablen Zins nach einem bestimmten Zeitraum. Ausschlaggebend ist dabei eine Benchmark wie der US-Verbraucherpreisindex. Ein Anleger, der vor einem Jahr einen 12-Monats-Swap gekauft hat, würde heute einen Gewinn von mehr als 5 Prozent erzielen, so Politi. Händler kaufen und verkaufen die Wertpapiere auch, um Preisschwankungen auszunutzen und kurzfristige Gewinne zu erzielen.
Die Preise für die Derivate erreichten im November ein Allzeithoch und werden immer noch mit mehr als dem Doppelten ihres historischen Durchschnitts gehandelt. Am 10. Februar, als das US-Arbeitsministerium die unerwartet hohen Inflationszahlen veröffentlichte, stiegen sie laut Bloomberg-Daten so stark an wie seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr.
“Die Volatilität der Inflation hat deutlich zugenommen”, konstatiert Semin Soher Power, Leiterin des Inflationshandels bei der Bank of Ireland Group in Dublin. Damit sei auch das Geschäftspotenzial gewachsen.
(Bloomberg)