Bei den wenigsten Menschen ist die äussere Erscheinung purer Zufall – mehr oder weniger bewusst ziehen fast alle Kleidung an, mit der etwas über die eigene Person signalisiert werden soll. Im Geschäftsalltag ist das Korsett allerdings enger: Es herrschen geschriebene oder ungeschriebene Dresscodes.
Der Zwang zu solchen Kleidungsregeln wird nicht von allen begrüsst. Stilberaterin Tanja Wiget beantwortet im cash-Interview Fragen zur Bedeutung von Kleidung, Dresscodes und Marken im Geschäftsleben und was diese über den sozialen Status aussagen.
cash: Frau Wiget, fühlen sich Menschen wegen Kleidungszwangs am Arbeitsplatz auch unter Druck?
Tanja Wiget: Ja. Das formelle Business Outfit, also der Anzug, mit welchem in den letzten 50 Jahren quasi der Erfolg verkörpert wurde, missfällt vor allem den Damen. Sie fühlen sich durch die Anpassung an die Männerdomäne zusehends eingeengt.
Was raten Sie Frauen in diesem Punkt?
Die Lösung heisst oft, den klassischen Anzug mit einem 'anzugsgerechten' Outfit zu ersetzen. Dies stellt mehr Individualität dar, untermauert die Persönlichkeit und behält gleichzeitig den unaufgeregten Charakter bei, den Business-Mode nun einmal erfordert.
Ist es für Frauen auch ein Nachteil, dass es für sie nichts gibt wie den unauffälligen dunkelblauen Anzug?
Frauen haben sich ja gerade im Geschäftsumfeld den klassischen, männlichen Business-Kleidungsstil angeeignet. Einige sehen darin hinreissend aus. Den Nachteil der Damen sehe ich allerdings gerade in dieser Anpassung. Ich wünsche mir von Frauen mehr Selbstbewusstsein und Emanzipation über diese Anpassung hinweg.
Wie sieht dies Ihrer Meinung nach aus?
Eine Frau, die souverän ist, die weiss, was sie kann, kann Dresscodes auffrischen, ohne sie zu missachten. Dies sieht man oft bei Frauen in ranghöheren Positionen, aber immer mehr auch im mittleren Management – Individualität wird salonfähig. Aber man muss die Aussagekraft von Kleidung kennen und wissen, wo die Grenzen sind.
Tanja Wiget arbeitet als Stilberaterin in Zürich (Bild: zVg).
Verhalten sich Männer anders?
Ich stelle auch bei Herren immer mehr das Bedürfnis nach Abweichung von der Norm fest. Für manche Leute ist die Uniformierung aber sicherlich auch eine Entlastung, weil sie nicht überlegen müssen, was sie anziehen.
Sind Männer unter Umständen benachteiligt, wenn es darum geht, sich abheben zu wollen?
Ja. Die Möglichkeiten für alternative, individuellere, anzugsgerechte Business-Outfits – Mode für den Mann überhaupt – sind weniger vielseitig als für die Frau. Zum einen haben Business-Oufits einen eingefleischten Status, zum anderen vertragen Männer aber auch weniger Extravaganz. Diese lässt sie teilweise schlicht lächerlich aussehen. Allerdings ist auch dies eine kulturell bedingte Angelegenheit; der Japaner sieht in Avantgarde-Teilen grundsätzlich besser aus als ein Europäer oder Amerikaner.
Gibt es eine soziale Differenzierung, im Sinne von: 'In diesem und diesem Beruf muss man Modellkleider oder Masshemden tragen?'
Gerade wer Ambitionen hat, tut gut daran, sich auf dem Stilparkett als nicht unbedarft zu outen. Für Masskleidung entscheidet man sich allerdings eher wegen der perfekten Passform bei anspruchsvolleren Proportionen oder für den Komfort – aber durchaus auch aufgrund der Leidenschaft zum Produkt.
Sieht man Menschen ihren sozialen Status an?
In einigen Branchen und ab einer gewissen Position herrscht die Erwartung vor, dass sich der Blick für Qualität und Marken von Kleidung schärfen muss. Ich spreche nicht von 'Klimbim-Outfits', sondern viel mehr von schönen Oberstoffen und von der Feinheit der Schnitte. Diesen haben ihren berechtigten Preis, und das geschulte Auge erkennt diese sofort.
Fördern Kleidungsregeln auch soziale Rollen?
Kleidungsregeln untermauern Positionen und geben Anlässen einen Rahmen und weisen einer Person eine Rolle im Umfeld zu, das ist richtig. Oft sind sie gesellschaftlich und kulturell bedingt. Sie sind aber auch ein Zeichen von Wertschätzung gegenüber dem Nächsten und ein Bild von der Verbindung, die wir selbst zur Aussenwelt schaffen.
Sind Marken wichtig? Oder Muster, Formen und Produkte, die man sofort mit Marken in Verbindung bringt?
Guter Stil ist nicht 'angeschrieben'. Ich rate von sichtbaren Markenzeichen ab. Aber es ist schon so, dass sich im Business-Umfeld in einigen Branchen ab einer gewissen Position der Blick für Qualität und Marken schärfen muss – allerdings mehr aus den Qualitätsgründen als durch Etikettierungen.
Wie sendet man mit der Kleidung im Arbeitsalltag das falsche Signal?
Business-Outfits leben gerade von ihrer schlichten, abgeräumten und unaufgeregten Aussage, um nicht von der Konzentration aufs Wesentliche abzulenken. Zu grelle, zu extravagante, anzügliche oder provokative Kleidung, viel Schmuck und Klimbim ist fehl am Platz. Ungepflegte und beschädigte Kleidung sind ein No-go. Auch die Aussagekraft von Farben ist nicht zu unterschätzen: Schwarz als Anzugsfarbe ist in gewissen Kreisen dem oberen Management vorbehalten.
…und wie das richtige?
Meine oberste Devise lautet: Kleidung darf nicht verkleiden, sie muss sich integrieren, zu uns passen und unsere Persönlichkeit unterstreichen. Tut sie dies, kann jeder Dresscode gelebt werden – entspannt oder elegant. Ich halte persönlich nichts von Stil-Inszenierungen zum Zweck von Signalwirkungen wie die rote Krawatte für die Durchsetzung in Sitzungen oder ähnlichem.
Ist es Intuition, angeboren, eine Frage der Erziehung oder nicht ergründbar, ob jemand gut daherkommt oder nicht?
Nicht jeder kann sich in jedem Gebiet auf die eigene Intuition verlassen. Sich gut kleiden können ist eine Fähigkeit wie jede andere auch und liegt Kreativköpfen mehr als anderen.
Kann man lernen, wie man sich richtig kleidet und so natürlicher wirkt? Wenden sich Leute an Sie, die dies suchen?
Gutem Stil unterliegt auch eine gewisse Systematik, deshalb ist er bis zu einem gewissen Grad lernbar. Das Umfeld und die Erziehung prägen mit und manchmal gilt es gerade, diese Muster zu durchbrechen. Eine Stilberatung kann dazu die Tore öffnen.
Wie kann man sich gut kleiden, wenn man kein Gespür hat für die eigene Persönlichkeit?
Es ist nicht unbedingt so, dass sich am besten kleidet, wer den besten Zugang zu sich selber hat. Es besteht keinen direkten Zusammenhang diesbezüglich, wenn Sie mich als Stilberater fragen. Wer einen guten Zugang zu sich selber hat, erkennt allerdings seine eigenen Unzulänglichkeiten.
Ist «unmodische» Kleidung, die aber passt, auch ein Ausdruck persönlichen Stils und damit ein Pluspunkt?
Unbedingt! Modisch als Ausdruck ständig wechselnder Trends und Produkte mit speziellem Ausdruck passt ohnehin nicht zu jeder und jedem, respektive zu jedem Stil! Personalisierter Stil zeichnet sich gerade dadurch aus, die entsprechende Wahl, aus dem aktuellen Angebot, für sich selbst zu treffen.
Sind schöne und gut gekleidete Menschen im Beruf eigentlich erfolgreicher?
Glaubt man den Statistiken, sind schönere Menschen erfolgreicher. Das lässt darauf schliessen, dass Äusserlichkeiten eine wichtige Rolle spielen, wenn auch nicht nur.
Also lässt sich Erfolg mit Signalen unterstützen?
Es ist schon erstaunlich, wieviel Kleidung nach aussen und innen bewirken kann. Ich würde es als wichtigste Nebensache betiteln – Kleidung ist visuelle Kommunikation, sie ist unsere zweite Haut und wir machen damit täglich eine klare Aussage zu unserer Person. Kleidung wird bewusst zweckorientiert eingesetzt. Aber sie kann Erfolg nicht absichern, wenn die Persönlichkeit und die Fähigkeiten hinterherhinken.
Ist die Schweiz in Sachen Dresscodes im Vergleich mit anderen Ländern strikt oder nicht?
Dresscodes sind vor allem in der Dienstleistungsbranche und im Kundenkontakt üblich. Dort, wo sie in schriftlich festgelegt sind, werden sie relativ strikt durchgesetzt. An und für sich werden sie aber weniger restriktiv gehandhabt als im Ausland, beispielsweise in Grossbritannien oder in den USA. Das rührt vielleicht auch daher, dass wir Schweizer ursprünglich ein Volk der Landarbeiter sind und Mode kein fester Bestandteil unseres Kulturguts ist, wie etwa in Frankreich.
Kennt die Schweiz da einen Stadt-Land-Gegensatz?
Die Schweiz bietet, was den Stadt-Land-Gegensatz betrifft, in fast jeder Beziehung ein Kontrast-Programm. Persönlich habe ich den Eindruck, über eine Strecke von 100 Kilometern in vielerlei Hinsicht manchmal Welten zu durchqueren.
Tanja Wiget ist Stilberaterin und Geschäftsführerin von Accent Style in Zürich.