"Viele Aktien notieren deutlich unter ihren historischen Niveaus", sagt Laura Foll, Portfolio-Managerin beim Vermögensverwalter Janus Henderson. Dennoch fänden sich keine Käufer. Der Aktienindex FTSE 250, in dem sich vor allem vom britischen Heimatmarkt abhängige Nebenwerte finden, fiel seit Jahresbeginn um fast 20 Prozent. Dem Fondsanalysehaus Lipper zufolge zogen Investoren allein aus diesen Werten seit Jahresbeginn umgerechnet 3,8 Milliarden Euro ab, so viel wie noch nie seit mindestens 22 Jahren.
Wegen der hohen Teuerung und den dadurch steigenden Zinsen fliegen auch britische Anleihen aus den Depots. Dadurch stieg die Rendite der zehnjährigen Bonds seit Jahresbeginn um fast die Hälfte auf derzeit etwa 1,4 Prozent.
Kaum besser sieht es für das Pfund Sterling aus. Es wertete in den vergangenen Monaten rund zwölf Prozent ab und markierte mit 1,1873 Dollar zeitweise den niedrigsten Stand seit zweieinhalb Jahren. Daten von Terminbörsen deuten darauf hin, dass Investoren auf eine Fortsetzung der Talfahrt wetten. "Der Rücktritt von Premierminister Boris Johnson ändert kaum etwas an der wirtschaftlichen Realität für Grossbritannien oder der Marktrealität für das Pfund", sagt Timothy Graf, Chef-Anlagestratege des Vermögensberaters State Street. "Die toxische Mischung aus steigenden Lebenshaltungskosten und verlangsamten Wachstum ist eine Herausforderungen für den künftigen Regierungschef."
Langjährige Talfahrt - «Lage ist furchterregend»
Seit dem Brexit-Referendum von 2016 stimmen Investoren mit den Füssen ab und verlassen das Vereinigte Königreich. Lipper-Daten zufolge zogen sie allein in den ersten sechs Monaten 2022 umgerechnet 13,4 Milliarden Euro aus britischen Aktien ab, so viel wie noch nie in einem Halbjahr. Weltweit hätten Fonds dagegen trotz steigender Zinsen einen Netto-Zufluss von rund 37 Milliarden Euro verbucht. Der Geldabzug der Investoren brockte Grossbritannien zum Jahresauftakt ein Leistungsbilanz-Defizit von 8,3 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung ein.
Eine Besserung ist nicht in Sicht. "Die Lage ist ziemlich furchterregend", warnt Investment-Manager Mark Peden bei der Vermögensverwaltung des Versicherers Aegon. Grossbritannien werde bei der wirtschaftlichen Entwicklung wohl nicht nur unter sieben führenden Industriestaaten (G7), sondern auch unter den 20 grössten Industriestaaten und Schwellenländern (G20) das Schlusslicht bilden.
Wie reagieren Regierung und Boe?
Bei einer für 2022 erwarteten Inflationsrate von elf Prozent drehen britische Verbraucher ihre Pennys zwei- und dreifach um. Supermarktketten wie Sainsbury bekommen die sinkende Kauflust bereits zu spüren.
Die neue Regierung könnte dem drohenden Abschwung mit Steuerentlastungen und Ausgabenprogrammen entgegenwirken. Das Büro für verantwortliche Haushaltsführung warnt allerdings, dass in diesem Fall die Verschuldung Grossbritanniens in den kommenden 50 Jahren auf 320 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung anwachsen würde.
Diese Gemengelage bringt die Bank von England (BoE) bei ihren geldpolitischen Entscheidungen in eine schwierige Position. "Jeder Notenbanker vollführt einen Drahtseilakt, wenn er die Inflation in den Griff bekommen will, ohne eine Rezession auszulösen", sagt Sunil Krishnan, Manager beim Vermögensverwalter Aviva Investors. "Aber in Grossbritannien ist dieses Drahtseil dünner und wackliger."
(Reuters)