Die gute Nachricht vorweg: Der Luxusgüterindustrie gehe es gut, ein Ende des Höhenflugs sei nicht zu erwarten – jedenfalls nicht für Bulgari. So lautet das Fazit von Jean-Christophe Babin, der die römische Schmuckmarke im Portefeuille des französischen Luxuskonzerns LVMH seit zehn Jahren wesentlich verändert und geprägt hat. Das Interview fand online statt.
Herr Babin, wie war Ihr letztes Geschäftsjahr?
Da wir zu einer Gruppe gehören, die ihre Zahlen noch nicht veröffentlicht hat, kann ich das finale Resultat nicht bekannt geben. Aber es geht das Gerücht, dass Bulgari 2023 sehr gut gelaufen ist, und das stimmt insbesondere in Bezug auf Produkte aus unserem High-End-Bereich.
War das Zufall, oder ists ein Trend?
Der Markt ändert sich: Die Leute kaufen weniger, aber dafür Besseres – und zwar durchs Band. In unseren Hotels war der Anteil an Nächten in Suiten noch nie so hoch wie 2023. Wenn wir heute ein Hotel bauen, können Suiten 40 Prozent des Angebots ausmachen, früher waren es höchstens 15 Prozent.
Schön für Sie, aber nicht leicht nachzuvollziehen in Anbetracht der Krisen und Unsicherheiten überall.
Es hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden: Krisen – niemand kann sie beeinflussen, jeder ist davon betroffen – sind der neue Normalzustand. Wer es sich leisten kann, will mehr denn je aus dem Vollen schöpfen, das Leben geniessen. Zudem: Wenn jemand bereit ist, für eine Nacht im Standardzimmer 2000 Euro auszugeben, ist er meistens auch bereit, 4000 Euro zu bezahlen, wenn er dafür eine schöne Suite bekommt. Das Gleiche beobachten wir auch in anderen Bereichen. Wir verkaufen weit weniger Stahl- als Golduhren.
Heisst das, High-End-Luxus ist vom Rest der Welt abgekoppelt?
Das gilt nicht generell und vor allem nicht für alle Marken. Heute wollen die Leute nicht mehr einfach Schönes von Luxusmarken kaufen, sondern Schönes von guten Luxusmarken. Und eine gute Marke balanciert die eigenen Interessen, was vornehmlich natürlich die Profitabilität ist, und den Gemeinschaftssinn aus. Bulgari engagiert sich an verschiedenen Ecken und Enden der Gesellschaft. Bei Ausbruch von Covid zum Beispiel haben wir statt Parfums Desinfektionsgels produziert. Das war kommerziell nicht ideal, sondern einfach grosszügig.
Und macht sich bezahlt?
Es ist mit ein Grund, warum wir so gut dastehen. Uns spielt zudem in die Karten, dass wir in einem Sektor sind, der nie überaus trendy war: Schmuck ist im Menschen tiefer verwurzelt als jede andere Luxuskategorie, er existiert seit 15'000 Jahren ...
... überall auf der Welt. Welches sind Bulgaris wichtigste Märkte?
In den USA leben am meisten Millionäre und Milliardäre. Der Markt ist die mit Abstand wichtigste Quelle für Reichtum auf dem Planeten und wird das auch noch für Dekaden bleiben. China ist wichtig, auch wenn gerade Krise ist. Wir profitieren dort von der Ein-Kind-Politik, die zur Folge hat, dass sechs Erwachsene auf ein Kind fokussiert sind, zwei Grosselternpaare und die Eltern. Dass wir in China überdurchschnittlich viele junge Kunden haben, kommt nicht daher, dass sie mehr Appetit auf Luxus hätten als anderswo, sondern weil sie sich Luxus früher leisten können. Kinder sind dort mit 20 reich. Deshalb boomt das so in China.
Das Ende ist absehbar, die Regierung propagiert nun das Kinderkriegen und schafft Anreize.
Demografische Fehlentscheide zu korrigieren, braucht aber halt 20 Jahre. Europa ist für Bulgari der zweitwichtigste Markt nach Greater China. Mit Metropolen wie Paris, London und Rom ist Europa eine der wichtigsten touristischen Destinationen der Welt – ein Booster, den zum Beispiel China nicht hat.
Ein Booster, auf den kein Verlass ist, wie Covid gezeigt hat.
Glamour und Italianità
Bulgari wurde vor 140 Jahren vom Silberschmied Sotirio Bulgari in Rom gegründet und avancierte im 20. Jahrhundert zu einer der führenden Schmuckmarken der Welt. Seit 2011 gehört Bulgari dem französischen Luxuskonzern LVMH, seit 2013 wird die Marke von CEO Jean-Christophe Babin geführt. Von Bulgari gibt es ausser Schmuck auch Uhren, Parfums, Hotels, Taschen und Accessoires. Verkauft wird online und in rund 300 Boutiquen in 50 Ländern. Den Umsatz 2023 schätzt Morgan Stanley auf rund 2,75 Milliarden.
Wir haben erlebt, dass Touristen von einem Tag auf den anderen ausbleiben, und auch, dass sie plötzlich in Massen eintreffen. Im einen Fall sind wir die Verlierer, im anderen die Gewinner. In keinem Fall haben wir Einfluss. Gleich wie im Casino. Wir fokussieren seit Covid daher obsessiv auf lokale Kunden.
Können Sie das ausschmücken?
Wir gehen proaktiv auf unsere Kunden zu, und zwar dort, wo sie leben, und warten nicht mehr einfach darauf, dass sie zu uns finden. Die Mitarbeitenden in unseren Boutiquen – wo es traditionell nicht so hoch zugeht wie in einem Warenhaus – erhalten einmal die Woche Listen mit Namen von Kunden, die gemäss unserem von einer künstlichen Intelligenz (KI) gesteuerten Algorithmus möglicherweise in den nächsten Wochen einen Ring oder eine Uhr kaufen möchten, und gehen diese dann aktiv an. Wir vom Headquarter mischen uns da nicht ein – abgesehen von ein paar Vorgaben in Bezug auf das Catering.
Stellen Sie für Asiaten anderen Schmuck her als für Amerikaner und Europäer?
Wir ziehen lokale Aspekte und Präferenzen in Betracht, sie machen vier bis zehn Prozent unserer weltweiten Verkäufe aus. Das heisst, unser Sortiment ist überall mehr oder weniger das gleiche, einfach anders zusammengestellt. In Asien haben wir mehr Schmuck aus Roségold, in den USA und Europa mehr aus Gelbgold. Jade verarbeiten wir vor allem für den chinesischen Markt. Wenn im Sommer die Chinesen nach Zürich reisen, halten wir da auch einiges parat. Ist die Saison vorbei, schicken wir das, was liegen geblieben ist, weiter nach China.
Was bereitet Ihnen Kopfschmerzen?
Nicht viel, und das hat wohl damit zu tun, dass ich kein gestresster Mensch bin. Ich führe ein Unternehmen mit fünf verschiedenen Business Units, die alle in verschiedenen Städten beheimatet sind, die Uhren in Neuchâtel, die Haute Joaillerie in Rom, der Schmuck in Florenz …
… und das Headquarter ist in Paris.
Wir stellen nichts in Frankreich her.
Aber Ihr Boss Bernard Arnault ist dort.
Ich muss nicht nach Paris, um mich mit ihm auszutauschen, das kann man auch via Mobiltelefon oder Zoom. Innerhalb von LVMH wird die Autonomie der einzelnen Marken grossgeschrieben.
Es heisst, Sie geniessen im Konzern sehr viel Freiheit.
Freiheit gibts bei LVMH für Resultate.
Auch wenn der Aktienkurs dümpelt?
Die Kursentwicklung ist für unsere Strategie nicht ausschlaggebend. Warum? Weil Analysten gern überreagieren – entweder sind sie zu optimistisch oder zu pessimistisch. Der Freefloat an LVMH-Titeln ist wichtig, aber am Ende gehört die Firma einer Familie, und die hat eine langfristige Vision. Monsieur Arnault hat gerade kürzlich wieder betont, dass er den Aktienmarkt nicht obsessiv verfolgt. Vielmehr achtet er auf Markenimage, -reputation und -konsistenz. Wenn man das gut macht, wird eine Marke begehrt, zieht mehr Kunden an, wirft Profit ab.
Letzten Sommer gab es zahlreiche Gerüchte über Rochaden an den Spitzen von LVMH-Marken, und alle sind wahr geworden, ausser eines: dass Arnaults zweitjüngster Sohn, Frédéric, Sie an der Spitze von Bulgari beerben werde. Was kam dazwischen?
Ich habe von Anfang an gesagt, dass da nichts dran ist, und habe recht gehabt. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.
Sie werden dieses Jahr 65. Gehen Sie in Rente?
In Italien, wo ich arbeite, ist das Rentenalter 67, und ich kann auch darüber hinaus weiterarbeiten, falls ich will und falls der Shareholder denkt, dass es das Beste ist für Bulgari.
Wollen Sie? Will er?
Wenn ich die Chance bekomme, noch zwei Jahre weiterzumachen, freut mich das. Aber ich habe keine Angst davor, etwas anderes zu machen, und zudem viele Ideen. Gerade bin ich bei der italienischen Immobilienfirma Arras eingestiegen und könnte da viel mehr machen, wenn ich mehr Zeit hätte.
Wem gehört die Zukunft in der Luxusindustrie: den grossen Konzernen oder den Nischenplayern?
Im Mainstream richtig erfolgreich zu sein, wird immer schwieriger, weil man dafür wirklich gross sein muss. Oder aber man ist klein, besetzt aber im High-End-Bereich erfolgreich eine Nische. Dazwischen wird es sehr schwierig. In der Uhrenindustrie zum Beispiel gibt es die Giganten, die jeder kennt, und dann gibt es Nischenmarken, zu denen Bulgari mit Serpenti und Octo zählt. Der Umsatz ist nicht gigantisch, die Reputation aber schon.
Und Ihre Preise sind es auch. Wie kommen die eigentlich zustande?
Als ich vor vielen Jahren bei TAG Heuer zu arbeiten anfing, sagte mir der damalige Chef: Wenn du Gewinn machen willst, nimmst du deine Kosten und einen Faktor X, und das ergibt den Retailpreis exklusive Mehrwertsteuer. Diesen Preis behältst du bei, machst keine Kompromisse, sonst fühlen sich Kunden veräppelt. Diese Regel sieht altmodisch aus, ist aber nach wie vor ein gutes Rezept.
Mit günstigeren Preisen könnten Sie mehr verkaufen.
Es gibt Märkte, die nach günstigeren Produkten fragen. Aber ich erkläre immer, dass das keine Lösung ist. Wer keine 10' 000 Euro ausgeben kann für eine Uhr, kann auch keine 8000 Euro dafür ausgeben. Im Luxussegment kann mit Preissenkungen erfahrungsgemäss nicht wesentlich mehr Volumen generiert werden.
Und was bewirken Preiserhöhungen?
Sie sind kein Problem, falls sie entweder rational erklärt werden können oder aber mit Verbesserungen zu tun haben.
Werden Sie die Preise an den starken Franken anpassen?
Es gibt Konstellationen für Anpassungen. In der Türkei ändern wir die Preise einmal im Monat, weil die türkische Lira täglich kollabiert. Wer sich dort nicht ruinieren will, muss den Preis regelmässig anheben. Dadurch verliert man Kunden. Macht man es nicht, verliert man Geld. 2024 werden die Preise aber eher von Rohmaterialpreisen getrieben. Einige Steine werden immer teurer, weil sie immer schwieriger zu finden sind, was nicht nur damit zu tun hat, dass sie per se rar sind, sondern damit, dass immer mehr Firmen in die Schmuckindustrie drängen.
Es ist also die gestiegene Nachfrage seitens der Industrie, welche die Preise in die Höhe treibt.
Genau. Es sind unzählige Käufer unterwegs, die Steine für Fashionbrands einkaufen, die in den Schmuck einsteigen wollen. Die Verkäufer wissen es auszunutzen, dass neue Anbieter, die nicht so Experten sind wie reine Schmuckbrands, in den Markt drängen und Aufpreise bezahlen, die in meinen Augen nicht gerechtfertigt sind.
Welches sind Ihre Hebel bei Bulgari? Die Digitalisierung?
Wir machen da einiges an der Kundenfront, Stichworte NFTs, Collectibles, Virtual Reality. Hinter den Kulissen nutzen wir die Digitalisierung insbesondere der Supply Chain für unsere vielen regulären Produkte mit dem Ziel, dass der Kunde immer das richtige Produkt am richtigen Ort zur richtigen Zeit vorfindet. Das ist hochkomplex. Drei Jahre haben wir daran gearbeitet und nun die erste KI-getriebene Supply Chain in der Luxusindustrie zu unserer Verfügung.
Wird sich die Rieseninvestition je amortisieren?
Na klar! Als ich heute Morgen die Zahlen vom letzten Geschäftsjahr gesehen habe, war ich hocherfreut darüber, wie gut bei uns Sell-in und Sell-out inzwischen zueinander passen. Das ist nur ein Gap von rund zwei Prozent, was absolut crazy ist, und unser Working Capital tiefer, wir damit flexibler. Das Thema Supply Chain ist zwar langweiliger als NFTs und Co., aber sehr effektiv. Und KI ist dem menschlichen Gehirn in diesen Dingen einfach hochüberlegen, weil zahllose Aspekte zu einem Thema miteinander verknüpft und daraus Konklusionen und Handlungsanweisungen abgeleitet werden können.
Sie folgen den Anweisungen einer KI?
Man muss natürlich den Verstand und die Erfahrung spielen lassen. Zudem: KI ist eine Maschine, ein Shit-in gibt immer ein Shit-out.
Ist KI für die Luxusindustrie ein Gamechanger?
Ja, ein supergutes Tool für alles, von der Produktentwicklung über das Marketing, den Verkauf und die Rekrutierung neuer Mitarbeiter bis zur Analyse von Kundenexperience, -benefits. Mit KI haben wir die Supply Chain optimiert und managen unsere Working-Capital-Ressourcen besser. Bref: KI macht uns produktiver und effizienter.
Und was für eine Rolle spielt für Sie der Onlinehandel?
E-Commerce hat unser Geschäftsmodell transformiert. Wir können so 24 Stunden an sieben Tagen die Woche verkaufen, davor waren es 10 Stunden an sechs Tagen.
Trotzdem machen Sie eine Boutique nach der anderen auf.
Auf der Website werden Produkte entdeckt und studiert, gekauft wird offline, und das bleibt so, denn man muss Schmuck anziehen, um zu sehen, ob er einem steht und passt. Da geht es nicht nur um Style, sondern auch um Ergonomie. Ein Collier kann an einer Frau toll aussehen und an einer anderen gar nicht. Und bei Uhren kommt dazu, dass die Bänder angepasst werden müssen, wofür es besondere Tools und oft auch Spezialisten braucht.
Dieser Artikel erschien zuerst im Digitalangebot der Bilanz unter dem Titel: «Freiheit gibts für Resultate»