Der Kapitalbezug aus der zweiten Säule liegt im Trend: Im Jahr 2023 wurde ein Vermögen von 15 Milliarden Franken ausbezahlt. 2022 waren es noch 13 Milliarden Franken. Schon das waren 15 Prozent mehr als im Jahr davor, 79 Prozent mehr als fünf Jahre und 121 Prozent mehr als zehn Jahre zuvor. Der - nachvollziehbare - Grund für die wachsende Beliebtheit des Kapitalbezugs wird in einem Verbund aus sinkenden Umwandlungssätzen, Steuervorteilen, dem Bedürfnis nach finanzieller Flexibilität und der Hoffnung auf höhere Renditen liegen.

Diese Medaille hat jedoch eine Kehrseite. Denn mit dem Kapitalbezug geht das sogenannte Langlebigkeitsrisiko von der Pensionskasse an die Pensionierten respektive Kapitalbezüger über. Gemeint ist - kurz gesagt - das finanzielle Risiko, länger zu leben, als Geld zur Verfügung steht. Es ist in den vergangenen Jahrzehnten gewachsen, da die Lebenserwartung gestiegen ist. Im Schnitt leben Männer heute acht, Frauen fünf Jahre länger als 1985. Entsprechend verlängert sich der Ruhestand - und die Zeit, die nach einem Kapitalbezug finanziert werden soll.

Freilich: Wer in dieser Frage auf Nummer sicher gehen will, entscheidet sich von Anfang an für die Rente. Sie wird lebenslang ausbezahlt, sodass man mit einem stetig zufliessenden Einkommen rechnen kann. In diesem Fall ist das Langlebigkeitsrisiko nicht aus der Welt; es verbleibt bei der Pensionskasse. Personen, die das Kapital wählen und auf den 90., 95. oder 100. Geburtstag zusteuern, benötigen jedenfalls eine solide Finanzplanung.

«In Couverts denken»

Finanzplaner Iwan Brot empfiehlt, «in Couverts zu denken», wie er gegenüber cash.ch sagt. «Jedes Couvert enthält einen Teil des bezogenen Kapitals, und die entscheidende Frage ist: Welches Couvert finanziert mein Leben in welcher Zeitperiode?»

Eine solche Zeitperiode beginnt unmittelbar nach der Pensionierung. Dann wird Geld gebraucht für den laufenden Lebensunterhalt und für lang gehegte Wünsche, die man sich nun erfüllen kann - ein eigener Garten, eine Weiterbildung in einem persönlich lieb gewonnen Gebiet oder eine Reise, die bis dahin zeitlich nicht möglich war.

Andere Phasen, für die man sich im übertragenen Sinn Couverts mit bezogenem Geld aus der zweiten - und der dritten - Säule bereitlegt, können mit 70, 75, 80 und 85 Jahren starten. «Je weiter der Zeithorizont, desto stärker sollte man in Aktien investieren und so die Renditechancen der Kapitalmärkte nutzen», sagt Brot. Die Kehrseite davon sind teilweise starke Vermögensschwankungen, die man tolerieren können sollte. 

Weiter gibt es ein paar Punkte, die nach einem Kapitalbezug speziell beachtenswert sind. Zunächst ist die Jahresdurchschnittsrenditen aus dem erhaltenen und angelegten Vermögen über die Zeit hinweg entscheidend, nicht die Renditen in einzelnen Jahren. Diese können mal höher, mal tiefer ausfallen und entsprechend vom Mittel abweichen.

Die Durchschnittsrendite sollte mit der Zinsgarantie der Pensionskassenrente Schritt halten, erklärt Iwan Brot. Die Zinsgarantie ist eine versicherungsmathematische Grösse. Sie entspricht der Anlagerendite, die eine Vorsorgeeinrichtung ab der Pensionierung auf dem Altersguthaben erwirtschaften muss, damit die Rentenverpflichtungen gedeckt sind. Bei einem Umwandlungssatz von 5 Prozent beträgt die Zinsgarantie gemäss Brot 2 Prozent netto und über 3 Prozent brutto. Folglich: So hoch sollte die Jahresdurchschnittsrendite nach einem Kapitalbezug sein.

In guten Börsenjahren ist das bestimmt möglich - man denke allein an das Jahr 2024, in dem der Swiss Market Index 4 Prozent und der S&P 500 rund 23 Prozent zugelegt haben. In schlechten Börsenjahren - etwa 2022 - braucht es hingegen Disziplin, sagt der Finanzplaner. «Denn wer in einem Tief aussteigt, bleibt auf einem Verlust sitzen - und das in einer Lebensphase, in der man sich Genuss gönnen will.»

Ferner: In der Praxis unterschätzten speziell Paare, bei denen die Frau jünger ist der Mann: «Das bezogene Kapital des Mannes muss nicht bloss für 20, sondern für 25 oder mehr Jahre reichen», so Brot. Der Grund dafür ist, dass die Frau den Mann wahrscheinlich überleben wird - das Kapital muss folglich über den Tod des Mannes hinaus angelegt werden - und reichen. Bei einem Rentenbezug ist die Witwe hingegen durch Hinterlassenenleistung bis an ihr Lebensende abgesichert. 

Was, wenn man zum Pflegefall wird?

Ein langes Leben in guter Gesundheit ist wünschenswert. Doch manchmal kommt es einschneidend anders und man wird zum Pflegefall. Neben dem persönlichen Schicksal wiegt dann die finanzielle Last schwer. Kosten in Höhe von mehreren zehntausend Franken pro Jahr kommen auf einen zu, wobei die Krankenkasse einen Teil übernimmt.

Wer eine Rente bezieht, ist relativ gut abgesichert. «Die Rente ist bis zum Lebensende garantiert, das Kapital schmilzt hingegen wie Butter in der Sonne», sagt Brot. Als Pflegefall muss man bezahlen und sein Kapital aufzehren, «bis man Ergänzungsleistungen beantragen kann». Einen Ausweg gebe es nicht, so der Finanzexperte.

Der Bezug von Ergänzungsleistungen ist allerdings an Voraussetzungen geknüpft, wie das Bundesamt für Sozialversicherungen informiert. Das gesamte Regelwerk ist komplex, ganz grundsätzlich gilt: Anspruchsberechtigt sind Menschen, die eine AHV- oder IV-Rente beziehen, in der Schweiz wohnen und mehr anerkannte Ausgaben als Einkommen haben. Zudem können nur Personen mit einem Vermögen kleiner 100'000 Franken Leistungen beziehen.

Eine Note dazu hat die Expertengruppe, welche die Ausgaben des Bundes überprüft und vorgeschlagen hat, die Steuervorteile beim Kapitalbezug zu beseitigen. Ein Vorteil dieser Massnahme sei, dass der Rentenbezug die Einkommen im Alter mit weniger Risiken sichere als der Kapitalbezug. «Damit sinkt auch die Gefahr des späteren Bezugs von Ergänzungsleistungen», heisst es im Bericht der Expertengruppe zuhanden des Bundesrates.

Eine Faustformel für eine Mischform aus Kapital und Rente

Ein Teilkapitalbezug mischt die Vor- und Nachteile beider Varianten: So trägt die Rente zur finanziellen Absicherung - auch vor dem Langlebigkeitsrisiko - bei; mit dem Kapital entzieht man sich den sinkenden Umwandlungssätzen und verschafft sich Flexibilität. Rund ein Fünftel der Personen, die Pensionskassenleistungen haben, entscheiden sich für diese Mischform.

Zur Frage, wie genau Rente und Kapital kombiniert werden sollen, gibt es eine Faustformel. Sie geht von einem finanziellen Grundbedarf aus. Dieser wird durch die AHV-Rente und andere sichere Einkommensquellen, etwa die Pensionskassenrente, gedeckt. Der darüber hinhausgehende Finanzbedarf kann mit dem Geld aus einem Kapitalbezug bestritten werden. Diese Tabelle gibt ein Beispiel für ein Jahresbudget:

Posten Betrag in CHF
AHV-Rente 30’000
Wohnen - 18’000
Lebensunterhalt - 12’000
Versicherungen - 10’000
Steuern - 4’000
Freizeit - 6’000
Puffer - 4’000
Saldo - 24'000

Quelle: Iwan Brot, Finanzplaner.

Der AHV-Rente von 30'000 Franken stehen Ausgaben für den Grundbedarf von total 54'000 Franken gegenüber. Das Defizit - 24'000 Franken - soll durch eine Pensionskassenrente gedeckt werden. Bei einem Umwandlungssatz von 5 Prozent werden folglich 480'000 Franken verrentet. Das restliche Altersguthaben kann man als Kapital beziehen - beispielsweise 520'000 Franken, wenn man im Laufe des Lebens ein Guthaben von einer Million Franken aufgebaut hat.

Reto Zanettin
Reto ZanettinMehr erfahren