Börsianer haben die Tendenz, Vergangenes in die Zukunft zu projizieren und darauf zu hoffen, dass es auch eintrifft – unterschwellig wissend, dass natürlich auch das Gegenteil geschehen kann. Man kann das mit Wunschdenken umschreiben.

So besteht die Theorie, dass die US-Börsen in einem Jahr, in welchem US-Präsidentschaftswahlen stattfinden, überdurchschnittlich gut sind. Dazu gibt es tatsächlich harte Zahlen und Statistiken: So ist der breit gefasste S&P 500-Index in den Jahren von US-Präsidentschaftswahlen seit 1960 um durchschnittlich 11,4 Prozent gestiegen, der Dow Jones wuchs 11,2 Prozent. Der Technologieindex Nasdaq hat in Wahljahren durchschnittlich sogar über 15 Prozent zugelegt.

Diese Steigerungen sind deutlich mehr als in einem «normales» Börsenjahr. Die durchschnittlichen jährlichen Gewinne für die US-Börsen seit 1930 liegen bei etwas mehr als 7 Prozent.

Die Begründung für den Glauben an ein gutes Börsenjahr bei Wahlen ist vor allem bei der US-Notenbank zu suchen, wie immer wieder betont wird. Die Federal Reserve versucht in Wahljahren eine möglichst stabile oder lockere Geldpolitik zu betreiben, um den Märkten angesichts der meist angespannten Polit-Stimmung nicht zusätzlich einzuheizen.

Notenbanken agieren eigentlich unabhängig von der Politik. Thomas Stucki, Anlagechef der St. Galler Kantonalbank (SGKB) und früher in selbiger Position bei der Schweizerischen Nationalbank tätig, relativiert: «Zinssenkungen der Fed werden in Wahljahren von der Regierung gerne gesehen. Mehr oder weniger offensichtlich wird auf das Fed-Präsidium Druck ausgeübt», schreibt Stucki im Anlagemagazin der SGKB.

Stucki hegt Zweifel an der "Gutwetter-Theorie" an den Börsen bei US-Wahlen und bringt Beispiele: So seien die besten Aktienjahre mit einem Plus von fast 30 Prozent keine US-Wahljahre gewesen. Und den grössten Verlust hätten die Aktien mit einem Minus von fast 40 Prozent im Jahr 2008 erreicht, als Barack Obama zum Präsidenten gewählt wurde. «Zur Finanzkrise und zum Konkurs von Lehman Brothers hat er aber nichts beigetragen», so Stucki.

«US-Wahl entscheidet nicht über das Schicksal des Börsenjahres 2024»

Tatsächlich kriegt die eingangs erwähnte Statistik mit Börsenzuwächsen von durchschnittlich 11 bis 15 Prozent in Wahljahren bei näherer Betrachtung weitere Kratzer. In vier der letzten zehn Wahljahre in den USA war die Rendite an den US-Börsen sogar negativ, wie die Bank Mirabaud hervorhebt.

Stucki von der St. Galler KB ist denn auch überzeugt, dass die US-Wahl 2024 nicht über das Schicksal des Börsenjahres 2024 entscheiden werde. «Dafür sind fundamentale Faktoren wie Inflation, Konjunktur und Geldpolitik der Notenbanken zuständig.»

Wenn Fed-Chef Jerome Powell in diesem Jahr tatsächlich eine Wende der Zinspolitik nach unten einläute, so Stucki weiter, habe das nichts mit den Wahlen zu tun. Vielmehr seien Zinsen von über 5 Prozent für die US-Wirtschaft auf Dauer zu hoch, weshalb eine graduelle Rückführung in einen konjunkturneutraleren Bereich vorausschauende Geldpolitik sei. Nach dem Wahltag werde sich die Börse deshalb schnell wieder neuen Themen zuwenden.

Worauf wir bei einer weiteren Statistik angelangt sind. Der zufolge treten Wirtschaftsabschwünge und Rezessionen am meisten in den ersten beiden Amtsjahren eines US-Präsidenten auf, wie dem Stock Trader’s Almanac zu entnehmen ist. Das dritte Jahr einer Amtszeit eines US-Präsidenten soll das beste Börsenjahr sein.

Daniel Hügli
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