cash.ch: Europa hat vor wenigen Wochen gewählt und der erwartete Rechtsruck hat sich manifestiert. Ist dies für die Märkte überhaupt bedeutsam?

Mabrouk Chetouane: In beiden europäischen Kernländern, Frankreich und Deutschland, erleben rechtsextreme Parteien einen erheblichen Popularitätszuwachs. In Frankreich haben sie sogar die Wahl mit 32 Prozent der Stimmen gewonnen. Als Reaktion auf dieses Ergebnis hat Emmanuel Macron beschlossen, Neuwahlen auszurufen. Die möglichen Auswirkungen könnten daher für Frankreich durchaus bedeutsam sein.

Und für Europa?

Natürlich haben die rechtsextremen Parteien einige Sitze im Europäischen Parlament gewonnen, aber sie können die Richtung des Europäischen Parlaments und der Kommission definitiv nicht grundlegend ändern, da es innerhalb der europäischen rechtsextremen Parteien keinen klaren Konsens gibt. Auf nationaler Ebene in Frankreich könnten jedoch weitreichende Folgen zu erwarten sein.

Welche wären das?

Frankreich hat in Bezug auf das Defizit bereits sozusagen eine Grenze erreicht. Wenn wir uns jedoch alle Massnahmen anschauen, die von der extremen Rechten und der neuen «Front Populaire» umgesetzt werden sollen, stehen wir vor erheblichen steuerlichen Forderungen, die sich ausschliesslich auf die Nachfrage auswirken würden. Wenn sie alle ihre geplanten Massnahmen umsetzen möchten, würde dies zusätzliche Kosten von mehreren Dutzend Milliarden Euro bedeuten - und das in einem Kontext, in dem das Finanzministerium bereits 20 Milliarden Euro anstrebt.

Gleichzeitig steht Europa politisch vor vielen Herausforderungen...

Energie, Sicherheit und die Zukunft der NATO in Anbetracht der bevorstehenden US-Wahlen sind die aktuellen Hauptthemen. Handelsfragen und Handelskriege werden erneut aufkommen. Daher müssen wir uns auf europäischer Ebene organisieren, um diese Themen anzugehen.

Wird der sogenannte «Frexit» wieder ein Thema?

Dies ist völlig ausgeschlossen. Einer der Gründe für Probleme des Vereinigten Königreichs ist der Austritt aus der Eurozone. Wenn ein Land wie Frankreich austreten würde, wäre das nicht nur eine Frage des «Frexit». Es würde die Eurozone aus dem Gleichgewicht bringen, mit allen Konsequenzen für alle Länder, die Währung und die Zentralbank. Die Europäische Zentralbank (EZB) ist eine glaubwürdige Zentralbank, während die Banque de France allein nicht das gleiche Mass an Schutz bieten könnte. Das ist offensichtlich.

Warum sollte man davon ausgehen, dass Le Pen pragmatisch handeln würde?

Pragmatismus kommt mit der Erfahrung. Wie kann man die richtige Entscheidung treffen, wenn man keine Erfahrung mit Verantwortung hat? Wie kann man das Vertrauen des Marktes gewinnen? Wie kann Frankreich weiterhin Geld leihen? Das könnten die wichtigsten Fragen sein, wenn Le Pen die Wahl gewinnen sollte.

Zu den Präsidentschaftswahlen in den USA: Was sind die entscheidenden Unterschiede zwischen Biden und Trump?

Beide Kandidaten werden viel Geld ausgeben, aber es gibt Unterschiede in ihren Herangehensweisen. Trump ist ein Geschäftsmann, während Biden eher diplomatisch ist. Auch in Bezug auf die Steuerpolitik gibt es Unterschiede. Biden würde die Steuern erhöhen, um die Wirtschaft auf beiden Seiten, also sowohl die Nachfrage als auch das Angebot, zu unterstützen. Trump hingegen würde die Steuern senken, um das Angebot zu begünstigen. Letztendlich würde sowohl Biden als auch Trump das US-Defizit erhöhen. Mittelfristig könnten Investoren jedoch die Nachhaltigkeit einer solchen Politik in Frage stellen.

Wer ist aus der Marktperspektive der bessere Kandidat?

Aus fundamentaler Sicht sind wir der Meinung, dass beide Kandidaten wachstumsfreundlich sind, wenn auch mit unterschiedlichen Ansätzen, und daher für die Märkte günstig sind. Trumps direkter Ansatz könnte für mehr Volatilität auf dem Markt sorgen. Aber volatilere Märkte bedeuten auch mehr taktische Möglichkeiten für Anleger.

Was sind die langfristigen Auswirkungen der hohen Staatsverschuldungsquote in den USA?

Die Finanzmärkte könnten vor einer schwierigen Zeit stehen, wenn Investoren beginnen, sich um die US-Schuldensituation Sorgen zu machen. Die USA investieren stark in Infrastruktur, den Technologiesektor und Forschungs- und Entwicklungskapazitäten, was ihr Produktionspotenzial stärkt und es ihnen ermöglicht, ihre Verschuldung zu erhöhen. Im Gegensatz dazu nimmt das potenzielle Wachstum der US-Wirtschaft im Vergleich zu europäischen Ländern zu. Daher besteht die Tendenz, die Fähigkeit der europäischen Länder, mehr Geld auszugeben, in Frage zu stellen.

Auf der Konjunkturseite: Welche Rolle spielt die Inflation in den kommenden Jahren? 

Wir steuern auf eine inflationäre Welt zu, was zum Teil auf den Trend zurückzuführen ist, die Produktion in nähere Konsumentenmärkte zu verlagern. Während China Länder wie Vietnam und Mexiko nutzt, um sicherzustellen, dass seine Produkte in die USA exportiert werden können, hat es aufgehört, Deflation zu exportieren. Zusätzlich werden die zunehmenden klimatischen Ereignisse, der Klimawandel an sich, die demografische Entwicklung und steigende Energiekosten voraussichtlich weiterhin einen Preisanstieg bewirken und zu mehr Inflationsvolatilität führen.

Sie haben über das neue Inflationsregime gesprochen, das jetzt vorherrscht. Was sind Ihrer Meinung nach die Hauptauswirkungen auf die Aktienmärkte?

In einem Umfeld mit leicht erhöhter Inflation sind die Unternehmen in der Lage, ihre Gewinnspannen zu verteidigen. Wenn die Inflation strukturell bedingt ist, wird sich der Aktienmarkt besser entwickeln als der Anleihemarkt. Dies liegt daran, dass die Inflation eine Bedrohung für den Anleihemarkt darstellt.

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat Anfang Juni die Leitzinsen gesenkt, hat sich jedoch insgesamt zurückhaltend gezeigt. Wie beurteilen Sie diese Entscheidung?

Die Entscheidung von Anfang Juni war eine Art Kompromiss. Christine Lagarde akzeptierte die Zinssenkung, um ein positives Signal an den Markt und die Wirtschaft zu senden und um zu zeigen, dass die EZB unabhängig von der Federal Reserve handeln kann. Ich glaube jedoch, dass diese Abkoppelung von der US-Geldpolitik nur vorübergehend ist. In den kommenden Monaten werden wir eine Neuausrichtung der Geldpolitik erleben. Daher bleibe ich bei meiner Einschätzung für September, da ich glaube, dass dies der richtige Zeitpunkt für alle Zentralbanken sein wird, sich zu bewegen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die EZB im Juli Massnahmen ergreift, liegt jedoch bei 0 Prozent.

Die US-Notenbank Federal Reserve hat wiederum die Leitzinsen wie erwartet nicht gesenkt. Welche Schritte erwarten Sie als nächstes?

Wie bereits erwähnt, hat die Fed keinen Grund zur Eile. Die Wirtschaft zeigt Anzeichen einer Verlangsamung, und die Inflation kehrt allmählich in einen Bereich zurück, der dem Ziel der Zentralbank nahe kommt. Jerome Powell wird bis zum Ende des Sommers warten, um der US-Geldpolitik eine klare Richtung zu geben. Zwei Szenarien sind denkbar: eine erste Zinssenkung im September oder eine klare Vorankündigung einer bevorstehenden Zinssenkung. Wir bevorzugen das erste Szenario. 

Können sich Aktienanleger darauf verlassen, dass die Zentralbanken in turbulenten Zeiten den Märkten zur Hilfe eilen?

Es ist nicht die Aufgabe der Zentralbanken, irgend jemandem zu helfen. Die Aufgabe der Zentralbanken ist es, den Konjunkturzyklus zu glätten und dafür zu sorgen, dass die finanziellen Bedingungen mit der wirtschaftlichen Realität übereinstimmen. Was dem Aktienmarkt hilft, sind Wachstum und Inflation, insbesondere nominales Wachstum. Wenn das nominale Wachstum vorhanden ist, bedeutet dies, dass die Erträge letztendlich weiter steigen werden. Für den Aktienmarkt in der zweiten Jahreshälfte ist es entscheidend, nicht das erwartete Gewinnwachstum für 2024, sondern für 2025 im Auge zu behalten.

Ist Künstliche Intelligenz ein Gamechanger?

Es wäre verfrüht zu behaupten, dass künstliche Intelligenz (KI) Auswirkungen auf die Art und Weise haben wird, wie Unternehmen organisiert sind und wie wir unser persönliches Leben gestalten.

Nvidia ist aufgrund des KI-Booms zu einem der wertvollsten Unternehmen weltweit aufgestiegen. Glauben Sie, dass es im Technologiesektor zu einer Übertreibung kommt?

Es ist sicherlich eine Herausforderung, wenn das Portfolio zu stark in einem Bereich konzentriert ist wie beispielsweise im Technologiesektor. Wenn beispielsweise Value-Aktien fallen, gibt es keine Garantie für einen anschliessenden Aufschwung. Kommt es jedoch zu einem Rückgang im Technologiesektor, ist die Wahrscheinlichkeit einer Erholung hoch. Das Timing auf dem Aktienmarkt ist jedoch komplex. Deshalb möchte ich dieses Risiko nicht eingehen und investiere stattdessen in Wachstumssektoren.

Mabrouk Chetouane verfügt über fast 20 Jahre Erfahrung im Bereich makroökonomischer Prognosen. Er wechselte Anfang 2022 von BFT Investment Managers, wo er Leiter für Forschung und Strategie war, zu Natixis IM. Davor war er bei IHS Global Insight als Principal Economist tätig. Ausserdem war er sechs Jahre bei der Banque de France tätig. Er hat einen Doktortitel in Wirtschaftswissenschaften der Universität Paris-Dauphine und einen Master-Abschluss der ENSAE in Wirtschaftswissenschaften und Statistikmodellierung sowie einen weiteren Master-Abschluss in quantitativer Makroökonomie der Universität Paris/Pantheon-Sorbonne.

Natixis Investment Managers ist ein globales Vermögensverwaltungsunternehmen, das zur französischen Finanzgruppe Groupe BPCE gehört. Das Unternehmen hat seinen Hauptsitz in Paris und Boston. Gemessen am Marktanteil ist es der zweitgrösste französische Vermögensverwalter. Natixis verwaltet ein Vermögen von 1,2 Billionen Dollar.

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