cash.ch: Herr Hlinka, die Prüfungsgesellschaft EY hat den Wirecard-Abschlussbericht nicht attestiert. Konkret fehlten Nachweise über Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von fast zwei Milliarden Euro. Gestern haben Sie im cash-Interview in Bezug auf Wirecard von Naivität gesprochen, einen Betrug aber ausgeschlossen. Sind zwei Milliarden Euro Naivität?

Mojmir Hlinka: Nein, und ich sage ganz klar, dass ich mit dieser Verschiebung des Abschlussberichts und dem heutigen Absturz der Wirecard-Aktie im Leben nicht gerechnet hätte. Insofern war das eine Fehleinschätzung von mir. Es gibt für mich jetzt zwei zentrale Fragen: Erstens, warum hat Wirecard nicht gestern schon kommuniziert? Die Antwort kennt niemand. Zweitens, wieso hat EY nicht gestern bereits den Finger gehoben? Auch das weiss niemand. Sicher ist nur: Da muss sowohl bei Wirecard als auch bei EY mächtig was schiefgelaufen sein. Für ein DAX-Unternehmen ist dieser Vorgang skandalös.

Dem Abschlussprüfer wurden offenbar unrichtige Saldenbestätigungen zu Täuschungszwecken vorgelegt. Damit manifestiert sich jetzt doch, was seit Jahren im Raum steht: Wirecard hat betrogen.

Das wissen wir nicht und ich glaube noch immer nicht an einen vorsätzlichen Betrug. Klarheit darüber werden die nächsten Tage und Wochen bringen.

Wieso sind Sie da so sicher?

Was für mich gegen einen Betrug spricht, ist die Tatsache, dass Wirecard sehr namenhafte Zugänge hatte – auch und gerade im Bereich Corporate Governance und Compliance. Das waren alles Top-Shots aus der Wirtschaft, die niemals ihren Ruf aufs Spiel setzen würden. Es sei denn, sie wurden auch getäuscht. Das wäre dann wirklich grober Vorsatz.

Also alles nur Schlamperei in einem wahnsinnigen Ausmass?

In einem absolut indiskutablen Ausmass. Dennoch ändert es nichts an diesem beispiellosen und nicht hinnehmbaren Blutbad.

Dann stellt sich zwangsläufig die Frage der Kompetenz des Vorstands. Im cash-Interview hatten Sie Markus Braun noch verteidigt. Ist er und der gesamte Vorstand jetzt noch tragbar?

Nein, das ist er nicht. Wenn so etwas passiert, muss man ganz klar die Konsequenzen ziehen. Wer so etwas zulässt bei einem Dax-Unternehmen, ist selbstverständlich nicht mehr tragbar.

Wurden die Aktionäre betrogen?

Sie wurden massiv geschädigt, ob sie betrogen wurden, wissen wir noch nicht.

Glauben Sie noch an das Unternehmen Wirecard?

Wir werden unsere Wirecard-Postionen jetzt zwischen 50 und 55 Euro sicher nicht abstossen. Fakt ist: Wenn man das ganze Chaos beiseiteschiebt, dann hat Wirecard noch immer einen entsprechenden Wert und ein wertvolles Netzwerk. Nicht zuletzt muss man jetzt ins Auge fassen, dass Wirecard als Übernahmekandidat für andere Firmen attraktiv wird. Selbst wenn der Worst Case eintreten würde, wäre der Substanzwert des Unternehmens ja noch immer da.

Spätestens ab heute heisst es jedoch: Man muss das Unternehmen und den Vorstand gänzlich separat beurteilen.

Mojmir Hlinka ist Finanz- und Anlageexperte des Schweizer Vermögensverwalters AGFIF International. Dort ist er Direktor und Leiter Relationship Management.