cash.ch: Herr Stucki, was erwarten Sie von der geldpolitischen Lagebeurteilung der Schweizerischen Nationalbank (SNB) am nächste Donnerstag?

Thomas Stucki: Ich gehe davon aus, dass der Zins unverändert bleiben wird. Nachdem die SNB im März den Zins gesenkt hatte, ist der Druck, jetzt auf die Europäische Zentralbank (EZB) rasch reagieren zu müssen, gering. Die nach oben angepassten Markterwartungen an die EZB und Fed reduzieren den Druck für eine rasche Zinssenkung zusätzlich. Deshalb gehe ich davon aus, dass die nächste Zinssenkung der SNB erst im September erfolgen wird.

Welche Informationen des SNB-Entscheids werden Sie besonders beachten?

Ich werde insbesondere auf die Inflationsprognose der Nationalbank achten. Dabei interessiert mich vor allem der Ausblick gegen Ende der Beobachtungsperiode, das heisst 2026. Die SNB liefert damit eine Indikation über ihre Zufriedenheit mit dem aktuellen Inflationsniveau. Bleibt die Kurve flach, so wie sie im März war, dann lässt sich die SNB alle Optionen offen und fühlt sich trotz zuletzt erneut leicht erhöhter Inflation wohl. SNB-Präsident Thomas Jordan wird sich in seinen Aussagen ausbalanciert zeigen. Er wird die Risiken betonen, wird aber darlegen, dass der Inflationsdruck in der Schweiz unter Kontrolle ist.

Welchen Einfluss haben die Zinsentscheide der Fed, der EZB und der SNB auf den Franken?

Der Entscheid der Fed hat auf den Franken kaum einen Einfluss. Den grössten Einfluss hat die SNB selbst. Sollte sie den Zins entgegen meinen Erwartungen senken, würde es kurzfristig den Franken schwächen. Wenn sie nichts macht, bleibt das Ganze unverändert. Die Zinspolitik der EZB ist relativ gut vorhersehbar. Der stärkere Einfluss auf das Währungspaar Franken-Euro ist die Unvorhersehbarkeit der Politik in der EU. Dies wurde nach den Wahlen des Europaparlaments vom vergangenen Wochenende deutlich. Die Effekte auf die Gemeinschaftswährung waren wesentlich ausgeprägter als nach dem EZB-Zinsentscheid.

Wie abhängig sehen Sie die Zinspolitik der SNB vom Fed und der EZB?

Die Abhängigkeit von der EZB darf nicht unterschätzt werden. Wenn in Europa die Zinsen kontinuierlich weiter gesenkt werden und sich die Zinsdifferenz zwischen der Schweiz und dem Euroraum substanziell vergrössert, steigt der Druck auf die SNB, mit Zinssenkungen nachzuziehen. Ein Nichtstun könnte eine rasche, starke Aufwertung des Frankens provozieren.

Hat Sie die Frankenschwäche in diesem Jahr überrascht?

Nachdem die SNB im Dezember angekündigt hatte, dass ihr der Franken zu teuer sei, hat mich die nachfolgende Schwäche nicht überrascht. Nach einer Stimmungsänderung im Markt war dies zu erwarten. Überraschend war jedoch das Ausmass der Abschwächung des Frankens - insbesondere gegenüber dem Euro. Von 93 Rappen auf 99 Rappen ist sehr viel.

Wo sehen Sie den Franken, Dollar und Euro Ende dieses Jahres? 

Eine genaue Prognose zu machen, ist naturgemäss nicht einfach. Der Euro wird weiter unter Vertrauensverlusten leiden. Der Franken dürfte deshalb stärker werden. Ich gehe von einem erneuten Stimmungswandel am Markt zugunsten des Frankens aus. Ich denke, dass der Euro das Jahr unter 95 Rappen beenden wird.

Springen wir zur Wahl des SNB-Präsidiums: Gemäss Berichten sei der Auswahlprozess fast abgeschlossen. Was erwarten Sie?

Bisher ist es sehr ruhig. Man hört überhaupt nichts von Kandidaten als Ersatz für Jordan als Mitglied des Direktoriums. Es ist sehr unüblich oder unwahrscheinlich, dass jemand Neues im Direktorium oder eine externe Person gleich das Präsidium übernimmt. Antoine Martin ist relativ neu und kommt deshalb aus meiner Sicht nicht in Frage. Martin Schlegel ist daher die naheliegende Lösung und wird aus meiner Sicht auch zum Präsident des Direktoriums gewählt werden.

Thomas Stucki ist Anlagechef der St.Galler Kantonalbank. Er hat einen Abschluss mit Doktorat in Volkswirtschaft von der Universität Bern und ist CFA Charterholder. Er führt bei der St.Galler Kantonalbank das Investment Center mit rund 35 Mitarbeitenden. Zuvor war er als Leiter Asset Management der Schweizerischen Nationalbank verantwortlich für die Verwaltung der Devisenreserven.