Als das Oberste Gericht der USA 1973 das Recht auf Abtreibung sicherstellte, war Kathy Schmitz Teenagerin. «Während meiner gesamten fruchtbaren Jahre wusste ich also, dass ich Optionen hatte», sagt die 65-Jährige am Esstisch ihres Hauses in Orlando im US-Bundesstaat Florida. Als das Gericht dieses Recht vor zwei Jahren (24. Juni) kippte, fühlte sich das für die Pfarrerin etwas unwirklich an. Sie habe dieses Recht nicht als selbstverständlich betrachtet. Aber sie habe gedacht, in einer Gesellschaft des Fortschritts zu leben. Wenige Monate vor der US-Präsidentenwahl rückt das Thema Abtreibung wieder ins Zentrum der politischen Debatten im Land: Es weckt einerseits Hoffnungen bei den Demokraten von US-Präsident Joe Biden. Und schürt andererseits Ängste bei Millionen Frauen im Land. Dabei sind die Augen besonders auf den Sonnenstaat Florida gerichtet.

Mit seiner historischen Entscheidung löste das unter dem republikanischen Ex-Präsidenten Donald Trump weit nach rechts gerückte US-Gericht vor zwei Jahren ein politisches Erdbeben aus. Seit dem Urteil können die Parlamente in den Bundesstaaten regeln, ob Abtreibungen erlaubt sind. In etlichen Bundesstaaten sind Schwangerschaftsbrüche nun weitgehend verboten. Bidens Demokraten versuchen mit dem Thema Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren. Sie werben damit, ein bundesweites Recht auf Abtreibung per Gesetz festzuschreiben. Dafür fehlen ihnen aktuell die Mehrheiten im Kongress. Trump, der wie Biden nach der Wahl wieder ins Weisse Haus einziehen will, meidet das Thema oder verstrickt sich in widersprüchlichen Aussagen.

Verfassungszusatz auf dem Wahlzettel in Florida

In Florida sind Abtreibungen seit Mai nur bis zur sechsten Schwangerschaftswoche erlaubt. Viele Frauen wissen zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht, dass sie schwanger sind. Es gibt eng definierte Ausnahmen. Doch die Befürworter des Rechts auf Abtreibung schauen in Florida hoffnungsvoll auf den Tag der Präsidentenwahl am 5. November. Denn dann stimmen sie nicht nur über das höchste Amt im Staate ab und weitere politische Personalien ab. Eine Initiative von Bürgerinnen und Bürgern hat es ermöglicht, dass auf dem Wahlzettel auch über einen Verfassungszusatz zum Schutz des Rechts auf Abtreibung abgestimmt wird. Er soll das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche in der Verfassung des Bundesstaates verankern.

Die Hürde dafür ist allerdings hoch: Der Verfassungszusatz muss in dem konservativen Bundesstaat bei der Abstimmung 60 Prozent an Zustimmung gewinnen. Eine Umfrage von April sah die Unterstützung bei 57 Prozent. Seit dem Ende des Rechts auf Abtreibung in den USA gab es in etlichen Bundesstaaten derartige Referenden - bisher waren sie alle erfolgreich, auch in konservativen Staaten wie Kansas. Doch dort lag die Hürde nur bei 50 Prozent. Kathy Schmitz ist überzeugt, dass das Referendum in Florida Wählerinnen und Wähler mobilisieren wird, ihre Stimme abzugeben. «Ich denke, es wird einige der jüngeren Wähler ansprechen», sagt die Ko-Präsidentin der League of Women Voters in Orlando und der Region, eine offiziell unparteiliche Organisation, die Frauen eine grössere Mitwirkung ermöglichen will. Die Organisation unterstützt das Referendum.

Demokraten wollen Wähler mobilisieren

Florida ist nicht der einzige Bundesstaat, in dem das Recht auf Abtreibung im November auf dem Wahlzettel stehen wird. Andere Staaten sind etwa Maryland oder Colorado. Doch auf Florida dürften Bidens Demokraten besonders schauen. Sie konnten mit dem Thema bei den Kongresswahlen Ende 2022 mobilisieren, fürchten aber, dass die Schwungkraft bis zur Präsidentenwahl mehr als zwei Jahre nach dem Urteil verloren ist. Mit dem Referendum schöpfen einige Demokraten sogar die Hoffnung, Florida bei der Wahl gewinnen zu können. Florida war einst ein sogenannter Swing State, der weder Demokraten noch Republikanern fest zugerechnet werden konnte. Doch in den Trump-Jahren hat sich das geändert.

Trump gewann den wichtigen Bundesstaat bei den Präsidentenwahlen 2016 und 2020 und liegt auch jetzt in Umfragen deutlich vorn. Bei der Gouverneurswahl vor anderthalb Jahren wurde der reaktionäre Republikaner Ron DeSantis wiedergewählt. Zwar scheint die Idee, dass die Demokraten Florida im November gewinnen, weit hergeholt. Aber es herrscht offenbar ein gewisser Optimismus in der Partei. «Biden ist in einer stärkeren Position, Florida bei dieser Wahl zu gewinnen, als er es 2020 war», schrieb Bidens Wahlkampfmanagerin Julie Chavez Rodriguez im April Medien zufolge an ihre Parteikollegen. Für einen Erfolg der Demokraten müssten vor allem Nichtwähler und Bürgerinnen und Bürger, die weder Anhänger der Demokraten noch Republikaner sind, mobilisiert werden - und dann im November nicht nur für die Verfassungsänderung stimmen, sondern auch für Biden.

Strikte Abtreibungsgesetze sind Gefahr für Frauen

«Wir müssen alle ansprechen. Das war der einzige Weg, wie wir den Verfassungszusatz überhaupt auf den Stimmzettel bekommen konnten», sagt Natasha Sutherland. Sie ist die Kommunikationsdirektorin der Kampagne «Yes on 4», die die verschiedenen Organisationen hinter sich vereint, die die Initiative unterstützen. Es handle sich um ein überparteiliches Projekt. Nur so könne der Verfassungszusatz genügend Stimmen bekommen. Die Menschen in Florida müssten verstehen, dass es sich um eine Entweder-oder-Entscheidung handele, sagt Sutherland. Es gebe entweder das derzeitige fast vollständige Abtreibungsverbot oder «die Wiederherstellung unserer Fähigkeit, selbst über unsere Gesundheitsversorgung zu entscheiden.»

Florida war bis zum Inkrafttreten des strikten Abtreibungsgesetzes auch Hafen für Schwangere aus den Nachbarbundesstaaten, in denen Schwangerschaftsabbrüche weitgehend verboten sind. Sutherland warnt ausserdem davor, dass die strikten Abtreibungsgesetze vor allem für weniger privilegierte Frauen eine Gefahr seien und auch ein «Todesurteil» bedeuten könnten. So ist die Müttersterblichkeitsrate schwarzer Frauen in den USA deutlich höher als die weisser Frauen. Die Gründe sind vielseitig - struktureller Rassismus spielt eine zentrale Rolle. Das Recht auf Abtreibung sei zu einem «sehr öffentlichen Kampf» geworden. «Politiker wollen uns glauben machen, dass er das Land spaltet, obwohl es in Wirklichkeit um Kontrolle geht.»

Angespannte Stimmung vor Abtreibungsklinik

Eine Mehrheit der Menschen in den USA befürwortet Umfragen zufolge das Recht auf Abtreibung. Wie sehr Abtreibung ein Kampfthema ist, wird besonders vor einer Abtreibungspraxis deutlich. Wer zum Eingang einer kleinen Praxis im Zentrum Orlandos gelangen will, braucht starke Nerven. Denn auf dem Weg zur Tür stehen bei 34 Grad zwei Demonstranten auf dem Fussgängerweg. «Das ist keine richtige Klinik», rufen sie. Und fordern einen auf, die Entscheidung zu überdenken. Man habe schliesslich andere Optionen. Ihr Ziel ist es, die Schwangeren zu einer christlichen Einrichtung zu locken, in der ihnen die Abtreibung ausgeredet werden soll - eine Art Fake-Klinik.

Am Eingang der echten Abtreibungspraxis stehen Freiwillige, die den Schwangeren helfen. Die Stimmung ist aufgeladen, Demonstranten und Freiwillige filmen sich gegenseitig, liefern sich Wortgefechte. Eine der Freiwilligen ist Betty, sie trägt einen Schirm und eine Weste in Regenbogenfarben. Die Mitte 40 Jahre alte Frau sagt, dass sie hoffnungsvoll sei, dass die Verfassungsänderung im November Erfolg haben werde. Sie beobachte, dass viele Schwangere seit der Sechs-Wochen-Regelung ihre Entscheidung unter Druck träfen. Wenige Meter von ihr entfernt steht Demonstrant James, der sich selbst «Missionar» nennt. Er erzählt, dass er seit sechs Jahren zu der Praxis komme - als Belästigung von Schwangeren will er sein Verhalten nicht verstanden wissen. «Wir sind Christen. Der Hauptgrund, warum wir hier sind, ist, den Frauen, die wegen einer Abtreibung kommen, Hoffnung zu geben.»

In der glühenden Hitze vor der Praxis wirkt der Streit über das Abtreibungsrecht wie ein unüberwindbarer Konflikt. In ihrem Wohnhaus einige Kilometer entfernt ist auch Kathy Schmitz überzeugt, dass es bei dem Thema in den USA niemals einen vollständigen Konsens geben werde. «Aber das ist der Punkt, an dem wir diese Fragen dem Einzelnen überlassen müssen, denn wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft. Und wir müssen die Menschen nach ihrem eigenen Gewissen handeln lassen.»

(AWP)