Wirecard-Chef Markus Braun steht vor einem Trümmerhaufen: Wirtschaftsprüfer fanden bei dem Unternehmen, das er in den vergangenen zwei Jahrzehnten vom Startup zum globalen Zahlungsabwickler aufgebaut hat, milliardenschwere Unklarheiten in den Bilanzen. Der Dax-Konzern selbst sieht sich als Opfer eines "gigantischen Betrugs". Weil es nun erst einmal keinen Jahresabschluss 2019 geben wird, können Banken in den nächsten Tagen Kredite in Höhe von zwei Milliarden Euro fällig stellen, wie Wirecard am Donnerstag mitteilte. An der Börse herrschte regelrechte Panik - die Aktien stürzten um 70 Prozent auf 31 Euro in die Tiefe.
Opfer eines "gigantischen Betrugs"?
"Alle Beteiligten sind um schnellstmögliche Aufklärung bemüht", sagte Braun. "Ob betrügerische Vorgänge zum Nachteil der Wirecard AG vorliegen, ist derzeit unklar." Der Konzern will Anzeige gegen unbekannt erstatten. Konkret geht es darum, dass Wirtschaftsprüfer von EY, die die Bilanzzahlen geprüft hatten, keine Hinweise auf die Existenz von Guthaben über 1,9 Milliarden Euro bei zwei asiatischen Banken gefunden haben, wie Wirecard mitteilte. Der Betrag entspreche einem Viertel der Bilanzsumme.
Es gebe Hinweise, dass dem Abschlussprüfer von einem Treuhänder beziehungsweise von Banken, die die Treuhandkonten führten, unrichtige Saldenbestätigungen zu Täuschungszwecken vorgelegt worden seien. Damit solle ein falsches Bild erzeugt worden sein über das Vorhandensein der Guthaben.
Der Konzern aus dem Münchener Vorort Aschheim steuert nicht nur das bargeldlose Bezahlen via Smartphone oder Kreditkarte an der Ladenkasse und in Online-Shops, sondern übernimmt auch für Händler das Ausfallrisiko von Zahlungen. Zur Absicherung dieser Geschäfte zahlt Wirecard Gelder auf Treuhandkonten ein, die nach erfolgreichem Abschluss wieder zurückfließen. 2019 hatte Wirecard den Treuhänder gewechselt. Die beiden Banken, mit denen dieser zusammenarbeite und die nun im Fokus stehen, verfügten über gute Ratings und hätten auch zahlreiche andere Mandate in Asien, erklärte Wirecard.
«Es kann noch schlimmer werden für Wirecard»
Die Fondsgesellschaft Deka, einer der Großinvestoren des Konzerns, erneuerte ihre Forderung nach einem Rücktritt Brauns. "Wir sind fassungslos", sagte Ingo Speich, Leiter des Bereichs Corporate Governance bei der Deka. "Ein personeller Neuanfang ist dringender denn je." Es bleibe zu hoffen, dass der erneute Vertrauensentzug am Kapitalmarkt nicht auch noch Auswirkungen auf das operative Geschäft habe.
Davor warnte auch Chefanalyst Robert Halver von der Baader Bank. "Es muss endlich Klarheit her, sonst wird das Unternehmen großen Schaden nehmen. Es kann noch schlimmer werden für Wirecard, wenn jetzt die Kunden abspringen." Die Analysten von Independent Research senkten ihr Kursziel für die Wirecard-Titel auf 40 Euro von 120 Euro. Die Baader Bank setzte ihre Bewertung gleich ganz aus.
Spekulanten rieben sich dagegen die Hände. "Ich habe gerade ein Vermögen gemacht", sagte ein Händler, der mit sogenannten Leerverkäufen auf einen Absturz des Börsenkurses wettete. In nicht einmal einer halben Stunde habe er 750.000 Euro verdient. Solche Leerverkäufe sind erlaubt, sie waren nur zeitweise von der Finanzaufsicht BaFin verboten worden. Zuletzt war diese Leihe wegen der riesigen Nachfrage nach Wirecard-Titel Börsianern zufolge schwer möglich und sehr teuer.
Wann Wirecard nun seinen eigentlich für April angekündigten Jahresabschluss 2019 vorlegt, ist unklar. Eine für Donnerstag geplante Online-Konferenz mit Journalisten und Analysten wurde auf unbestimmte Zeit verschoben.
Klagewelle von Aktionären erwartet
Auf Wirecard kommen nun auch lange Rechtsstreitigkeiten mit Anlegern zu. Die Anwaltskanzlei Tilp will ihr beantragtes Musterverfahren erweitern. Die Aktionärsvereinigung SdK teilte mit, sie lasse aktuell von einer Anwaltskanzlei "eine rechtliche Einschätzung bezüglich möglicher Pflichtverletzungen der Organe und Dritter anfertigen".
Braun und die drei anderen Vorstände des Konzerns stehen schon im Zentrum von Ermittlungen der Staatsanwaltschaft München wegen des Verdachts der Marktmanipulation. Die BaFin hatte Klage eingereicht, weil sie Hinweise auf falsche Angaben bei Börsenpflichtmitteilungen sah. Die Deutsche Börse prüft einem Sprecher zufolge wegen der nicht fristgerechten Lieferung des Jahresfinanzberichts die Einleitung eines Sanktionsverfahrens.
Wirecard wurde in Medienberichten in den vergangenen Jahren immer wieder Bilanzfälschung vorgeworfen. Der Konzern hat das stets bestritten. Eine vom Aufsichtsrat in Auftrag gegebene Sonderprüfung durch KPMG sollte die Vorwürfe aus dem Weg räumen, die Prüfer konnten aber einige der Vorwürfe nicht entkräften.
(Reuters)