In weniger als einem Monat werden die US-Amerikaner in einer der folgenreichsten Wahlen ihrer Geschichte abstimmen. Doch an der Wall Street ist es unheimlich ruhig, denn das so genannte «intelligente Geld» zögert eine Wette einzugehen. «Wetten Sie nie auf das Werfen einer Münze», sagt George Ball, Chef der in Houston ansässigen Investmentfirma Sanders Morris Harris. «Die Wahl ist zu knapp, um eine informierte Anlagepositionierung zu ermöglichen.» 

Hedge-Fonds bauen ihre Aktienpositionen nicht ab, so wie sie es in der Vergangenheit vor Wahlen getan haben und haben stattdessen ihr Engagement in Aktien erhöht. Die Rekordjagd am S&P 500 Index hat gemäss den Daten von Goldman Sachs Prime Brokerage, die bis ins Jahr 2008 zurückreichen, dazu geführt. 

Gleichzeitig konzentrieren sich die Optionshändler mehr auf die Zinssenkungen der US-Notenbank und dem Zustand der US-Wirtschaft und setzen die Wahl am 5. November auf der Liste der unmittelbaren Prioritäten nach unten, sagen Marktveteranen. 

«Die Sorgen über die Wahlen stehen etwa an fünfter Stelle hinter dem Krieg im Nahen Osten, den explosiven Bewegungen in China, dem Hin und Her der US-Wirtschaftsdaten, den sich ändernden Erwartungen bezüglich den Leitzinssenkungen der Fed und der bevorstehenden Berichtssaison», sagte Chris Murphy, Co-Leiter der Derivatestrategie bei der Susquehanna International Group. 

Die jüngsten Wahlumfragen von Real Clear Politics zeigen, dass die Demokratin Kamala Harris landesweit 49,2 Prozent der Stimmen erhält und der Republikaner Donald Trump 47,2 Prozent. Aber im Hinblick auf das sogenannte «Electoral College» sind die nationalen Durchschnittswerte weit weniger wichtig als die Umfragen für die einzelnen Bundesstaaten Diese deuten auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen hin. Die Chance, dass eine der beiden Parteien die Präsidentschaft und beide Häuser des Kongresses gewinnt, gilt hingegen als gering. 

Abwarten 

«Erstens ist es ein sehr enges Präsidentschaftsrennen, vor allem in den Swing States», sagt Eric Sterner, Chief Investment Officer bei Apollon Wealth Management. «Zweitens haben beide Kandidaten sehr ehrgeizige wirtschaftliche Ziele, und ich bezweifle stark, dass einer von ihnen in der Lage sein wird, diese Wahlversprechen vollständig umzusetzen, wenn seine Partei nicht das Weisse Haus, den Senat und das Repräsentantenhaus erobert.» 

Die Hedge-Fonds warten vorerst die Wahl ab, bis mehr Klarheit herrscht, bevor sie in grossem Stil auf politische Investitionen setzen, so Jonathan Caplis, Geschäftsführer des Hedge-Fonds-Research-Unternehmen PivotalPath. Dieser Ansatz hat sich in diesem Jahr bisher bewährt, denn laut PivotalPath haben US-Long-Short-Hedgefonds bis September einen Gewinn von 11 Prozent erzielt, was im obersten Quartil der rollierenden Neunmonatsrenditen seit 2010 liegt. 

«Die meisten Fonds werden sich eher auf ein anhaltendes Marktwachstum stützen, als aufgrund eines derzeit noch unsicheren US-Wahlergebnisses radikale Kürzungen vorzunehmen», so Caplis. «Es ist viel einfacher, die Auswirkungen einer Zinssenkung der Fed auf die Investitionen zu erkennen als eine unklare Aussage der Kampagnen von Trump oder Harris.» 

Unterdessen ist die Volatilität bei US-Aktienoptionen im Vergleich zum letzten Jahr relativ hoch. Das lässt darauf schliessen, dass die Händler eine defensive Haltung einnehmen. Es gibt jedoch kaum Anzeichen dafür, dass dies in erster Linie auf die Wahlen zurückzuführen ist, sagen Derivateprofis. Stattdessen wird der Optionshandel vor allem durch kurzfristige Katalysatoren wie den bevorstehenden Lohnbericht, die hohe Volatilität an den asiatischen Märkten und geopolitische Spannungen angetrieben. 

Darüber hinaus ermöglicht die Zunahme von Optionen mit kürzerer Laufzeit den Händlern, länger zu warten, bevor sie auf ein bestimmtes Ereignis wetten. 

Einzelne Aktien anstatt breite Indizes 

Das soll natürlich nicht heissen, dass es keine Möglichkeit gibt, jetzt auf die Wahl zu setzen. Portfoliomanager und Strategen raten den Anlegern, auf bestimmte Aktien und Sektoren anstatt auf breite Indizes zu setzen. 

Die Handelsabteilung der UBS empfiehlt regionale Bankaktien und schrieb diese Woche in einer Mitteilung an ihre Kunden, dass sie eine taktische Abwärtsposition in chinesischen Aktien bevorzugt und dass die so genannten Trump-Trades ein Comeback erleben. 

Eine republikanische Regierung wird im Allgemeinen als positiv für regulierungsintensive Sektoren wie Finanzwerte und das Gesundheitswesen angesehen, während die harte Haltung des ehemaligen Präsidenten zum Handel und zur Anwendung von Zöllen, insbesondere gegen China, chinesische Aktien in Schwierigkeiten bringen kann. 

Energie ist ein weiteres beliebtes Wahlkampfthema, da ein Sieg von Trump als besser für die traditionellen Energieerzeuger angesehen wird, während eine Präsidentschaft von Harris als positiv für die saubere Energiebranche gilt.

Natürlich gibt es noch eine letzte Möglichkeit, die Wahl zu nutzen, nämlich sich in Geduld zu üben. Einige professionelle Anleger raten allen, die vorhaben, sich langfristig am Markt zu engagieren, über das Gerede hinwegzusehen, zu warten, bis die Ergebnisse vorliegen und das Bild klar ist, und sich dann auf der Grundlage aller verfügbaren Informationen entsprechend zu positionieren. 

«Langfristig orientierte Anleger sollten es im Allgemeinen vermeiden, im Vorfeld von Präsidentschaftswahlen taktische Entscheidungen zu treffen, vor allem, wenn diese sehr umstritten sind», so Joseph Caplan, Portfoliomanager bei Caplan Capital Management in Highland Park, New Jersey. «Auch wenn bestimmte Sektoren unter den verschiedenen Regierungen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit von Gegenwind und Rückenwind konfrontiert sein könnten, gibt es gute Gründe, umfassende Portfolioumschichtungen zu vermeiden.»

(Bloomberg)