cash.ch: Herr Plüss, Sie leiten bei Bellecapital den Fonds "Galileo Biotech Innovation Funds" mit Schwerpunkt Genomics-Aktien. In diesen Segment leiden bekannte Namen wie Intellia Therapeutics, Beam Therapeutics oder Crispr Therapeutics derzeit wie viele Biotech- und Wachstumstitel an der Börse. Können sie sich erholen?

Cyrill Plüss: Innerhalb der vergangenen zwei Jahren gab es bei Genome-Editing-Aktien einen gigantischen Hype. Einerseits war dies wegen des allgemeinen Aufwinds der Growth-Aktien, andererseits dank des Durchbruchs der mRNA-Impfstoffe gegen Covid. Die Bewertungen stiegen im gesamten Segment an - häufig bei Firmen, die nicht nur keinen Gewinn, sondern auch keinen Umsatz haben. Seit etwa September 2021 hat sich der Trend umgekehrt, ich schätze zum grossen Teil wegen der Zinspolitik der Notenbanken. Der Markt diskontiert wieder stärker, und bei Firmen, bei denen die Profite in der Zukunft liegen, schlägt dies auf die Bewertung. Aber ich denke, die Zinspolitik ist bei den Wachstumstiteln jetzt langsam eingepreist. Damit, denke ich, ist ein guter Zeitpunkt zum Einsteigen gekommen.

Biotech-Investments gelten derzeit auch als anfällig auf das Inflationsrisiko. Ihr Fonds, oder auch der viel zitierte "ARK Genomics Revolution-ETF" von Cathie Wood spüren dies. 

Der Gegenwind, den wir bei Wachstums-Aktien gesehen haben, ist noch nicht ganz vorbei. Aber so heftig wie in den vergangenen drei bis sechs Monaten wird es nicht mehr werden. Die Marktkapitalisierung bei Genome-Editing-Aktien hat sich in etwa halbiert. Man ist also zurück bei den Bewertungen von 2020. Anders gesagt, die Bewertungen haben sich normalisiert. Investiert wird bei Genome Editing in Firmen, die in den nächsten fünf bis zehn Jahren sehr gross werden können. Wenn man in Wachstum investiert sein will, muss man jetzt im Genomics-Bereich übergewichtet sein.

Genomics oder Genome Editing ist an der Börse ein Zukunftsthema oder ein Megatrend. Aber von was sprechen wir genau?

Die Grenze zwischen klassischer Biotechnologie und Genome Editing ist in einigen Punkten natürlich fliessend. Im engeren Sinne sprechen wir unter dem Überbegriff Genome Editing von drei Therapieformen: Der erste Pfeiler ist die  Zell-Therapie - bekannt im Kontext der Krebs-Bekämpfung. Zweiter Pfeiler ist die Gen-Therapie - bekannt geworden vor allem durch die Covid-Impfung. Man entwickelte hier eine Kopie genetischer Information. Es wird der Bauplan eines Teils des Coronavirus in Form der mRNA kopiert und dem Patienten zugeführt. Der dritte Pfeiler ist das eigentliche Gen-Editing, wo man gezielt das Erbgut des Patienten verändern und Fehler direkt korrigieren will.

Sie sprechen von der CRISPR/Cas-Methode respektive den so genannten "Gen-Scheren", mit Hilfe derer man auch Krankheiten bekämpfen oder gar verhindern will.

Nun, ganz so wie im dystopischen Science-Fiction-Film 'Gattaca' ist es nicht. Von solchen "Designs" sind wir weit weg. Dem Unternehmen Intellia Therapeutics ist vergangenes Jahr aber ein Durchbruch gelungen, indem gezielt ein 'Fehler' in einer Gensequenz korrigiert werden konnte. Im Moment - wenn überhaupt - kann man so genannte monogenetische Krankheiten angehen, wo an einem einzigen, spezifischen Punkt etwas falsch ist. Viele Krankheiten haben ihre Ursache aber bei verschiedenen Fehlern im Erbgut respektive dem Genom. Man ist noch nicht so weit, diesbezüglich das Erbgut zu verändern. 

In welchem Stadium befindet sich die Forschung bei diesen Therapien?

Zell-Therapie ist am weitesten fortgeschritten, in der Gen-Therapie gelingen derzeit wichtige Durchbrüche, während das Editing das Feld ist, wo die Forschung noch am wenigsten fortgeschritten ist.

Bei der Gentherapie sind auch die Schweizer Pharmakonzerne Roche und Novartis bekannte Namen geworden. Was für Anwendungen gibt es?

Das Paradebeispiel bei Gentherapie ist, wie ich schon sagte, die Covid-Impfung, wo Moderna und Biontech den Durchbruch 2020 schafften. Ein anderes Beispiel kommt von Avexis, einer Gesellschaft, die 2018 von Novartis gekauft wurde und jetzt als Novartis Gene Therapies bekannt ist. Dort hat man eine Zelltherapie gegen spinale Muskelatrophie (SMA) entwickelt, eine muskuläre Krankheit, an die Kinder in sehr frühem Alter sterben. Der Grund ist ein Genfehler, aufgrund dessen die Zellen des Körpers gewisse Proteine nicht herstellen können. Dank der Gentherapie gibt es eine korrekte Kopie dieses Gens, und dank der Behandlung überleben die betroffenen Kinder. Das von Avexis und Novartis entwickelte Medikament ist übrigens Zolgensma, bekannt auch als "das teuerste Medikament der Welt", weil die Behandlung rund zwei Millionen Dollar kostet.

Wie gross schätzen Sie den Genomics-Markt?

Es gibt zwischen 6000 und 7000 so genannter "rare diseases" ("seltene Krankheiten"). 80 bis 90 Prozent davon sind genetisch verursacht und es gibt für einen Grossteil keine Therapie oder Heilung. Betroffen dürften 350 Millionen Menschen sein. Allerdings lebt natürlich ein grosser Teil davon nicht in Ländern, wo Gentherapien ohne weiteres möglich sind.

Also bisher eher ein kleiner Markt. Warum wird dann trotzdem von einem Megatrend gesprochen?

Die Kosten für diese Behandlungen sind im Moment noch hoch, wie das Beispiel von Zolgensma mit Kosten von zwei Millionen Dollar pro Behandlung zeigt. Es ist derzeit ein Markt von rund 10 Milliarden Dollar. Man muss aber auch den Kontext sehen: Die Evolution der Medizin fing an bei Heilpflanzen, man entdeckte die Moleküle darin, ging weiter zu deren künstlichen Herstellung und so entstanden Medikamente wie beispielsweise Aspirin. Irgendwann stiess man bei der Erforschung von Wirkstoffen an eine Grenze und so kam es zu komplexeren Forschungen wie Antikörper-Therapien - die klassische Biopharma. Und jetzt stehen wir wieder an einem Punkt, wo ein neuer Ansatz für bisher nicht therapierbare Krankheiten gefragt ist. Und da kommt das Genome Editing ins Spiel. Und der Markt beschränkt sich nicht nur auf rund 7000 bisher nicht therapierbare Krankheiten und bestimmte Krebs-Formen. Zu einem gewissen Grad wird es eine "Rückwärts-Integration" geben: Mit dem neuen Ansatz wird man alte Ansätze substituieren können. Kurz, es ist die Zukunft der Medizin. 

Sie erwähnten schon Novartis mit der Avexis-Akquisition. Könnten grosse Pharmakonzerne noch viel mehr zukaufen? Gerade Novartis, wo Milliarden stattdessen in Aktienrückkäufe gehen?

Novartis muss die Unternehmensstrategie so definieren, wie es der Konzern für richtig hält. Man wird wohl eine Balance finden müssen zwischen Auszahlungen und Investitionen. Über kurz oder lang werden grosse Pharmakonzerne bei Genomics zukaufen.

Warum schrecken Novartis und andere Pharmakonzerne davor zurück, Genome Editing, wo die Forschung noch am wenigsten weit fortgeschritten ist, mehr zuzukaufen? Die künftigen "Genscheren" als Wachstumsfaktor?

Ein Unternehmen, das beim Editing einen Durchbruch vorweisen kann, ist wie erwähnt Intellia. Aber da sprechen wir auch schon von einer Börsenkapitalisierung von fünf Milliarden Dollar. Auch Kooperationen, die grosse Pharmakonzerne eingehen, sind relativ teuer. Zukäufe würden wohl eher bereits relativ grossen Unternehmen stattfinden. Bei Gene-Therapie hat ja neben Novartis mit Avexis auch Roche den Kauf von Sparks durchgeführt.

Aber trotzdem - Müssten sich die grossen Pharmakonzerne dem Thema nicht mehr widmen?

Genome Editing wird nicht alles andere verdrängen. Genomics und die traditioneller Medizinforschung werden nebeneinander weiterexistieren. Aber das grosse Wachstumspotential in der Medizin ist bei Genomics, Fusionen und Zukäufe wird es dort weiter geben. Das Interesse von grossen Pharmakonzernen sieht man ja daran, dass Novartis 2018 bereit war, für das Gentherapie-Unternehmen Avexis knapp 9 Milliarden Dollar zu bezahlen.

Der grösste Teil der Genomics-Unternehmen sind Firmen in den USA. Wird sich die Schweiz zu einem wichtigen Land für den Forschungszweig entwickeln?

Viele Unternehmen sind in den USA börsenkotiert, ja. Die Schweiz bleibt aber wichtiger Forschungsstandort für viele solcher Unternhmen.

Neben den Bereichen Zelltherapie, Gentherapie und Editing werden auch die DNA-Sequenzierung - gewissermassen das Daten-Mining der Medizinindustrie - oder entsprechende Sparten von Testing und Diagnostik zu Genomics gezählt. Wie sehen Sie dort die Wachstumsaussichten?

Wir sind dort nicht hauptsächlich investiert, weil wir das Feld insgesamt enger definiert haben. ARK beispielsweise investiert dort viel mehr. Unsere Zurückhaltung hat aber auch einen Grund: Bei der DNA-Sequenzierung und der Diagonstik sind die Unternehmen grösser und somit für uns weniger interessant. Die Bereiche selbst dürften aber weiter zulegen und noch wichtiger werden, als sie es heute schon sind.