An der Wall Street mehren sich seit Tagen die Anzeichen, dass die aktuelle Super-Rally ins Stocken geraten könnte - seit Anfang Jahr hat der S&P 500 Index dank den outperformenden Tech-Giganten um 15 Prozent zugelegt. Gerade mit dem jüngsten Optionsverfall am vergangenen Freitag hat sich eine strategische Änderung bei den Positionierungen unter den Anlegern ergeben, wodurch das positive Liquiditätsmomentum wegzubrechen droht. Gemäss den Analysten von Spotgamma ist der Liquiditätshöhepunkt an den Optionsmärkten bis zum 15. Dezember bereits erreicht.
Zwar heisst das nicht, dass nun der Höchststand kurzfristig erreicht sein muss, aber das Potenzial ist mit einer Obergrenze von 4500 Punkte im S&P 500 Index bei der sogenannten Gamma-Wall für den Moment deutlich kleiner als vor Monatsfrist. Bei der Gamma-Wall handelt es sich in dieser Marktsituation um eine Long-Optionsposition über dem Markt, die aufgrund der Positionierung der Optionshändler eine Obergrenze für den Markt festlegt. Die Marktteilnehmer beginnen bei diesem Niveau, Futures-Kontrakte auf den S&P 500 zu verkaufen.
Trifft diese Prognose zu, so ergäbe dies bis im Dezember noch ein maximales Potenzial von 2,5 Prozent. Am Dienstag steht der S&P 500 kurz nach der Eröffnung bei 4400 Punkten. Spotgamma führt weiter an, dass die Freigabe des Marktgammas nach dem jüngsten Verfall dazu führt, dass der Markt fragiler und anfälliger für grössere Schwankungen als üblich wird. cash.ch hat hier beschrieben, welchen Einfluss die Optionshändler auf die Kursrichtung an der Wall Street im Moment haben.
Dazwischen liegt im September zwar noch ein grosser Optionsverfall, aber auf diesen Termin ist die Liquidität deutlich geringer. Deshalb werde in der Zwischenzeit die Liquidität bis zum Anfang Dezember ihren grössten Rückgang verzeichnen, so Spotgamma. Erst mit dem Dezember-Beginn und dem allfälligen "Santa Rally“ würde dies wieder ausgeglichen.
Ein weiterer Punkt, der für eine Korrektur respektive Konsolidierung spricht, ist der sogenannte Fear and Greed Index. Der Fear and Greed Index respektive Angst-und-Gier-Index ist der Stimmungsindikator des US-Senders CNN, der anhand verschiedener Kennzahlen eine relative Bewertung des Aktienmarktes auf Basis der Emotionen Angst und Gier vornimmt. Bis vor zwei Wochen lag der Index im neutralen Bereich, hat nun aber zügig den Bereich der extremen Gier erreicht. Diese Zone zeigt oftmals an, dass Gewinnmitnahmen sinnvoll sind.
Ein weiterer Indikator, welcher gegen neue Engagements am US-Aktienmarkt spricht, ist die Auswertung der Suchanfragen bei Google Trends nach dem Stichwort "Bullenmarkt". Diese sind jüngst auf den höchsten Stand seit dem Sommer 2020 hochgeschnellt. Im Vergleich dazu ist das Interesse bei Google nach dem Stichwort "Bärenmarkt" weiterhin sehr bescheiden.
Auch bei den Tech-Werten zeigt ein Indikator des PEG-Ratio an, dass das Ende der Fahnenstange bei den Preisen erreicht sein könnte. Diese Kennzahl - auch bekannt als "Kurs-Gewinn-Wachstums-Verhältnis" oder "Price/Earnings to Growth Ratio" setzt das Kurs-/Gewinnverhältnis eines Unternehmens ins Verhältnis zum erwarteten Gewinnwachstum. Die Kennzahl stellt eine Erweiterung der PE-Ratio dar. Besonders bei Wachstumswerten, deren Kurs-/Gewinnverhältnis tendenziell höher ist und somit als überbewertet empfunden werden kann, bietet die PEG-Ratio die Möglichkeit aussagekräftigere Ergebnisse abzulesen. Grundsätzlich nutzen Investoren für die Ermittlung der PEG-Ratio den Kurs einer Aktie, deren Gewinne und das erwartete Wachstum. Mithilfe der PEG-Ratio kann eine Einordnung der Aktien in überbewertete, unterbewertete oder fair bewertete Titel vorgenommen werden. Wie nachfolgende Grafik zeigt, sind die Tech-Aktien dermassen überbewertet wie während der Dotcom-Blase im Jahre 2000.
Zum Schluss sei der schon fast notorische Perma-Bär Mike Wilson von Morgan Stanley erwähnt, der trotz des aktuellen Rallys an seiner negativen Prognose eisern festhält. Wilson ist einer der pessimistischsten Strategen an der Wall Street und gibt sich nicht geschlagen. Er meint, dass den Anlegern "ein böses Erwachen" bevorstehe. Der Stratege, dessen Prognose für einen Markteinbruch im Jahr 2023 noch nicht eingetreten ist, sagt, dass nachlassende fiskalische Unterstützung, geringere Liquidität und sinkende Inflation die US-Aktienrallye in der zweiten Jahreshälfte belasten werden.
"Angesichts unserer grundsätzlichen Einstellung zum Wachstum fällt es uns schwer, bei der aktuellen Aufregung am Aktienmarkt mitzumachen", schrieb Wilson am Dienstag in einer Notiz. Allerdings will er nicht ausschliessen, dass die Börse weiterhin bullisch bleibt. "Wenn sich das Wachstum in der zweiten Jahreshälfte wie erwartet wieder beschleunigt, wird sich das bullische Narrativ, das zur Stützung der Aktienkurse genutzt wird, als richtig erweisen." Seine Grundtenor bleibt aber zurückhaltend und er warnt sogleich: "Wenn nicht, könnte vielen Anlegern ein böses Erwachen bevorstehen, angesichts der sehr grossen Risikospanne, die wir sehen."
Laut den Strategen von Citigroup unter der Leitung von Chris Montagu ist die Positionierung bei US-Aktien-Futures die positivste seit 2010. Für sie ist die entscheidende Frage nun, ob diese Dynamik anhalten kann oder ob Gewinnmitnahmen und Absicherungsrunden den Markt in den kommenden Wochen bremsen werden.
US-Aktien verzeichneten in diesem Jahr eine kräftige Rally, die hauptsächlich von einer kleinen Gruppe grosser Technologieunternehmen angetrieben wurde, die darauf wetten, dass der Boom bei der künstlichen Intelligenz die Gewinne steigern wird. Trotz der starken Erholung ist das sogenannte MACD-Momentum - das die Beziehung zwischen zwei gleitenden Durchschnitten des Kurses eines Wertpapiers zeigt - laut von Bloomberg zusammengestellten Daten derzeit sowohl für den S&P 500 als auch für den Nasdaq 100 positiv.
Wilson gibt in einer Kundennotiz zu, dass sein Team in Bezug auf den S&P 500 in diesem Jahr "so falsch" lag, dass sie untersucht haben, ob ihr Ertragsmodell irreführend ist. Dennoch haben sie beschlossen, an ihren Prognosen festzuhalten. Morgan Stanley geht davon aus, dass die Verlangsamung der Inflation direkte negative Auswirkungen auf das Umsatzwachstum der Unternehmen haben wird, die sich nicht in den Konsensprognosen widerspiegeln.
Auf die grosse Korrektur zu setzen, dürfte allerdings verfrüht sein. "Die restriktiven Zentralbanken haben den Aktienmarkt nicht bewegt", sagen die Barclays-Strategen um Emmanuel Cau. "Nachdem der Grossteil der Zinserhöhungen abgeschlossen ist, kommt es jetzt auf die Gewinne an, und die sind bisher so gut." Entsprechend wäre es kaum verwunderlich, wenn die US-Aktienmärkte ohne grosse Impulse in die bevorstehende, ruhigeren Sommerwochen gehen würden.