Die Europäische Zentralbank (EZB) senkt erneut die Leitzinsen. Der EZB-Rat beschloss am Donnerstag, den am Finanzmarkt massgeblichen Einlagensatz um 0,25 Prozentpunkte auf 2,50 Prozent nach unten zu setzen. Das ist bereits die sechste Senkung, seit die EZB Mitte 2024 auf einen Lockerungskurs umgeschwenkt war. Finanzexperten sagten dazu in ersten Reaktionen.

Stefan Gerlach, Chefökonom der EFG Bank in Zürich:

«Die Inflation kühlt sich ab, ist aber noch nicht besiegt. Die Daten vom Februar zeigen eine Gesamtinflation von 2,4 Prozent, eine Kerninflation von 2,6 Prozent und eine Dienstleistungsinflation von 3,7 Prozent – alles immer noch über dem 2-Prozent-Ziel der EZB, aber ein Zeichen dafür, dass der Anstieg der Inflation von Ende 2024 vorbei ist. Da der Lohn-Tracker der EZB auf eine Verlangsamung des Lohnwachstums im Jahr 2025 hindeutet, hielt es der EZB-Rat für angebracht, die Normalisierung der Geldpolitik fortzusetzen. 

Die Märkte erwarten weitere Senkungen und preisen Zinssätze unter 2 Prozent bis zum Jahresende ein. Das ist nach wie vor möglich, aber die Aussichten sind höchst ungewiss – alles hängt davon ab, wie sich die wirtschaftlichen Bedingungen entwickeln.

Risiken gibt es zuhauf. Ein Handelskrieg zwischen den USA und der EU könnte die Inflation im Euroraum kurzfristig in die Höhe treiben, aber die eigentliche Gefahr liegt in der dadurch ausgelösten Konjunkturabschwächung in Europa. Der Krieg in der Ukraine bleibt ein entscheidender Unsicherheitsfaktor – eine Eskalation würde die Unsicherheit erhöhen, während ein Waffenstillstand das Vertrauen und die Ausgaben ankurbeln könnte. Die wirtschaftlichen Auswirkungen steigender europäischer Verteidigungsausgaben sind unklar, müssen aber in die Analyse einbezogen werden.»

Bill Papadakis, Senior Macro Strategist bei Lombard Odier:

«Der Fiskalimpuls für die Wirtschaft deutet auch darauf hin, dass die Europäische Zentralbank (EZB) ihre Geldpolitik nicht ganz so aggressiv lockern muss. Wir haben unsere Erwartungen für die Zinssenkungen der EZB angepasst. So rechnen wir nun damit, dass die EZB den Einlagensatz um weitere 100 Basispunkte senkt, bis auf eine Endrate in der Region von 1,75 Prozent. Dies wäre unseres Erachtens kein akkomodierendes Niveau, sondern läge am unteren Ende der Schätzungen für den neutralen Zinssatz der Eurozone; mit neutral ist ein Niveau gemeint, welches das Wirtschaftswachstum weder fördert noch bremst.»

Dean Turner, Chefökonom für die Eurozone der UBS:

«Unserer Ansicht nach wird die EZB die Zinsen voraussichtlich weiterhin um konstante 25 Basispunkte pro Sitzung senken, bis sie im Juni 2 Prozent erreichen, doch die Risiken dieser Entscheidung sind ausgewogen. Höhere geopolitische Unsicherheit und die Gefahr von Zöllen auf EU-Exporte in die USA stellen Abwärtsrisiken für das Wachstum dar, was die EZB dazu veranlassen könnte, die Leitzinsen später im Jahr zu senken, um die Wirtschaft zu stützen. Diesem Risiko wirken jedoch die jüngsten Ankündigungen einer erheblichen Erhöhung der Staatsausgaben in den kommenden Jahren entgegen. Es kann zwar einige Zeit dauern, bis die Auswirkungen der Staatsausgaben in der Wirtschaft durchschlagen, doch eine positive Stimmungsaufhellung, die bei einem Waffenstillstand in der Ukraine noch weiter verstärkt werden könnte, könnte in den kommenden Monaten zu steigenden Ausgaben und Investitionen führen.»

Lena Dräger, Institut für Weltwirtschaft Kiel:

«Dies kann als weiterer Schritt zur Normalisierung der Geldpolitik verstanden werden, nachdem die EZB die Zinsen stark angehoben hatte, um die hohen Inflationsraten im Euroraum zu bekämpfen. Um der schwächelnden Wirtschaft im Euroraum auf die Sprünge zu helfen, müsste die EZB aber mehr tun. Die EZB hat ihre Wachstumsprognose für 2025 bereits im Dezember nach unten korrigiert. Es ist davon auszugehen, dass sie angesichts der jüngst stark zugenommenen geo- und handelspolitischen Risiken ihre Prognose für das Wirtschaftswachstum im März erneut nach unten korrigieren muss. Angesichts der desolaten Wirtschaftslage sollte die Geldpolitik der EZB in den expansiven Modus umschalten und weitere, womöglich grössere, Zinssenkungen in Betracht ziehen.»

Jörg Asmussen, Hauptgeschäftsführer des Gesamtverbandes der deutschen Versicherungswirtschaft:

«Es ist richtig, dass die EZB die geldpolitische Lockerung mit einer Zinssenkung fortsetzt. Zuletzt hat sich die Dynamik beim Lohnwachstum abgeschwächt, was ihr mehr Spielraum gibt. Mit einem Einlagenzinssatz von 2,5 Prozent kommt die EZB in den Bereich eines neutralen Zinsniveaus, was mit Blick auf die schwachen Konjunkturprognosen gerechtfertigt ist. Gleichzeitig ist es angesichts der hohen Unsicherheit gut, dass sich die EZB nicht im Voraus auf einen Pfad festlegt und das Marktumfeld beobachtet. Ich erwarte bei bisheriger Datenlage noch zwei weitere Zinssenkungen in der ersten Jahreshälfte und sehe eine Bodenbildung des Einlagenzinses bei 2,0 Prozent.» 

(cash/Reuters)