Vor fast einem Jahr griffen die Hamas-Terroristen Israel an.  Der daraus resultierende und bis heute andauernde Nahost-Konflikt hatte lange Zeit nur geringe Auswirkungen auf den Erdölpreis, da Israel weit entfernt von den wichtigsten Produktionsstätten des Nahen Ostens liegt.

Mit dem Raketenangriff des Iran auf Israel erreichte der Konflikt am Dienstag jedoch eine neue Dynamik. Der Preis für ein Fass Rohöl der Referenzsorte Brent stieg zeitweise um 5 Prozent. Auch am Freitag legte er zu und liegt nun bei 78,4 Dollar.

Entwicklung des Brent-Ölpreises.

Der Grund für diesen Anstieg: Es besteht die Möglichkeit, dass Israel als Reaktion die Erdölinfrastruktur im Iran angreift. Der Iran ist ein bedeutendes Förderland und besitzt einige der grössten Ölreserven der Welt. Zudem könnte der Iran die Strasse von Hormuz blockieren, um Druck auf die USA auszuüben. Diese Meerenge ist ein entscheidendes Nadelöhr des globalen Ölhandels - ein Fünftel des weltweit verbrauchten Öls wird über diese Route transportiert.

Die Ölpreise könnten auf über 200 Dollar pro Barrel steigen, wenn die eskalierenden Spannungen im Nahen Osten die iranische Rohölproduktion erheblich beeinträchtigen, warnt nun Bjarne Schieldrop, ein führender Rohstoffanalyst der schwedischen Bank SEB, gegenüber dem US-Wirtschaftssender CNBC. Ein solches Szenario würde einen Anstieg von 161 Prozent bedeuten.

Sollte der zunehmende Konflikt die iranische Ölinfrastruktur zerstören, würde dies die freie Ölkapazität der OPEC+-Koalition erheblich verringern. Das würde nicht nur zu höheren Preisen, sondern auch zu verstärkter Unsicherheit auf dem Markt führen, warnt Schieldrop. «Die nächste Frage auf dem Markt wäre, was in der Strasse von Hormuz passieren wird, und das würde natürlich einen erheblichen Risikoaufschlag für Öl bedeuten», fügt er an.

Andere Analysten stimmen Schieldrop zu und stellen fest, dass geopolitische Spannungen so lange unbedeutend bleiben, bis tatsächliche Schäden an der Ölinfrastruktur sichtbar werden. «Der Markt ist selbstgefällig, was geopolitische Risiken angeht. Wenn keine Fässer vom Markt verschwinden, wie wir es kürzlich in Libyen gesehen haben, spielen geopolitische Risiken eine untergeordnete Rolle», erklärt Bob McNally, Gründer des Marktforschungsunternehmens Rapidan.

Es besteht die Hoffnung und Erwartung, dass Israel zurückhaltend reagiert und es nicht zu einer wesentlichen Unterbrechung der Energieproduktion und -ströme kommt. Dennoch wetten einige Investoren auf die Möglichkeit einer beschädigten Ölproduktion, berichtet Bloomberg. Am Mittwoch wurden fast 27 Millionen Barrel Brent-$100-Options-Calls gehandelt, was bedeutet, dass sich Händler gegen das Risiko dreistelliger Ölpreise absichern.

Nur kurzfristige Preissprünge?

«Sollte Israel die iranischen Ölanlagen dennoch ins Visier nehmen, droht ein noch stärkerer Preisanstieg. Die Schätzung von 200 Dollar pro Barrel erscheint mir jedoch zu hoch. Der Iran hat grosse Ölreserven, aber sein Anteil an der Weltproduktion ist mit knapp 4 Prozent aktuell überschaubar», sagt Domagoj Arapovic, Makroökonom bei Raiffeisen. Andere Länder könnten die Lücke füllen, insbesondere Saudi-Arabien, das kürzlich angedeutet hat, die Fördermenge wieder erhöhen zu wollen. Einen Ölpreis von weit über 100 Dollar pro Barrel hält Arapovic nur dann für realistisch, wenn die Lage vollkommen eskaliert und es dem Iran beispielsweise gelingt, die Strasse von Hormuz zu blockieren.

Ähnlich äussert sich Norbert Rücker, Rohstoffexperte bei der Bank Julius Bär: «Mit der Eskalation im Nahen Osten kommen wie immer ‹Doom-and-Gloom›-Szenarien auf. Die Situation müsste extrem aus dem Ruder laufen, um den Ölpreis auf neue Rekordstände zu treiben. Das halten wir für unwahrscheinlich. Wichtig: Geopolitik sorgte immer nur für kurzfristige Preissprünge. Nachhaltige Unterbrechungen wie während der Ölkrise vor 40 Jahren sind die Ausnahme.»

Die zunehmenden Spannungen zwischen Israel und dem Iran sind nicht der einzige Faktor, der die Ölpreise beeinflusst. Im Dezember wird das OPEC+-Kartell entscheiden, ob es die Rohölproduktion erhöht und somit einige der bislang geltenden Produktionsbeschränkungen rückgängig macht. Diese Beschränkungen wurden eingeführt, um die Ölpreise zu stützen, haben der Allianz jedoch Marktanteile gekostet.

Einige Mitglieder haben ihre Quoten nicht eingehalten, was den Unmut Saudi-Arabiens, des OPEC-Führers, geweckt hat. Das Königreich warnte in der vergangenen Woche, dass der Brent-Preis auf bis zu 50 Dollar pro Barrel fallen könnte, wenn die OPEC nicht wie zugesagt die Fördermengen reduziert. Manche sehen darin eine versteckte Drohung, dass Saudi-Arabien seine eigene Produktion erhöhen wird, falls sich die Mitglieder nicht an die Vorgaben halten.

Der Konflikt hat jedoch gewisse Grenzen. Die Vereinigten Staaten behalten ihre militärische Überlegenheit bei und befürchten die Auswirkungen auf die amerikanischen Tankstellen, insbesondere vor den Wahlen. Für das iranische Regime bedroht eine zerrüttete Wirtschaft sein Überleben und liegt daher nicht in seinem Interesse.

«Der Ölmarkt dürfte bis 2025 im Überschuss sein. Die derzeitige geopolitische Lage könnte zu einem Preisanstieg führen, der eher Wochen als Tage dauert, aber nicht zu einer dauerhaften Abweichung vom Ölpreispfad in Richtung der 70-Dollar-Marke», so die Julius Bär Bank. Was einen solchen vorübergehenden Aufschwung unterstützen könnte, ist die extrem pessimistische Stimmung und die damit verbundenen Risiken von Short-Eindeckungen. Die Vergangenheit lehrt, über den geopolitischen Lärm hinwegzusehen.

ManuelBoeck
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