Herr Lind, früher oder später orientieren sich auch haussierende Börsen an der Realwirtschaft. Wie sind die Aussichten?
In der Industrie sieht es mit Ausnahme von Indien in allen grossen Volkswirtschaften recht düster aus. Gleichzeitig ist der Dienstleistungsbereich in vielen Ländern widerstandsfähig, nicht zuletzt in den USA. Aus diesem Grund rechnen wir auch mit einem Soft Landing der US-Wirtschaft. Das globale Wachstum ist zwar nicht so hoch wie vor der Pandemie, aber dank dem Servicesektor relativ gesund. Man sollte also nicht allzu pessimistisch sein.
Die Börsen hoffen auf sinkende Zinsen. Wird der Wunsch erfüllt?
Die Sorgen der Notenbanken haben sich von der Inflation auf die Arbeitsmärkte verlegt. Die Arbeitslosigkeit steigt in einigen Ländern, das Lohnwachstum hat sich ziemlich abgeschwächt. Es gibt regionale Unterschiede, aber insgesamt zeigt der Trend bei den Zinsen nach unten. Das ist auch gut so, denn die Verschuldung vieler Staaten wird zunehmend zu einem unübersehbaren Problem.
Ein neuer Krisenherd?
Die Regierungen haben in der Pandemie viel ausgegeben, gleichzeitig gingen die Steuereinnahmen zurück. Die Ausgaben bleiben hoch. In den nächsten Jahren werden wir in vielen Ländern grosse Budgetdefizite sehen, nicht zuletzt in den USA. Es stellt sich die Frage, wie lange ein so grosses Land wie die USA so hohe Defizite ertragen kann. Irgendwann muss man sich einschränken. Die Diskussion wird sich wohl nach den Wahlen intensivieren.
Viele Experten sehen in hohen Schulden kein Problem.
Da bin ich anderer Meinung. Die Staatsschulden in den USA sind so hoch wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Irgendwann könnte der Kapitalmarkt das nicht mehr so gut absorbieren. Dann könnte auch die Börse nervös werden.
Wäre eine Rückkehr auf ein ultratiefes Zinsniveau nicht hilfreich?
Grundsätzlich schon. Die Frage ist nur, wie stark die Zinsen fallen. Ich denke, wir befinden uns in einem neuen Regime. Die Investoren müssen sich an eine Welt anpassen, in der die Zinssätze höher sind, als sie es seit der Finanzkrise waren.
Was bedeutet so ein neues Regime für die Aktienmärkte?
Strukturell höhere Zinsen gehen mit höheren Renditen bei den Staatsanleihen einher. Diese höheren Yields bedeuten Gegenwind für die Aktienbörsen. Vor allem US-Aktien sind im weltweiten Vergleich teuer. Dort sind die höheren US-Treasury-Renditen nicht eingepreist. Treten wir in eine Phase höherer Zinsen ein, haben US-Aktien einen schwereren Stand.
Robert Lind ist Ökonom beim Asset Manager Capital Group. Zuvor arbeitete der Oxford-Absolvent als Chefökonom bei Anglo American und als Macro-Research-Chef bei ABN Amro.
Dieser Artikel ist zuerst in der Bilanz erschienen.