cash.ch: Wie ist die Stimmung an den Märkten?

Peter Becker: Wir haben uns gerade aus einer Phase der aggressiven Zinserhöhungen heraus bewegt. Das beherrschende Thema im letzten Jahr war, dass der Markt fast wie bei einem Ping-Pong-Spiel zwischen einer tiefen Rezessionserwartung und einem positiveren Szenario, also einem Soft Landing, hin und her schwankte, insbesondere in den USA. Vor dem Hintergrund der Resilienz der Volkswirtschaften dominierte in der ersten Hälfte dieses Jahres die Erwartung eines Soft Landings, was der Grund für das „Risk-on“-Umfeld war. Aber seit kurzem hat die erneute Furcht vor einer Rezession in Kombination mit anderen Faktoren zu sehr turbulenten Marktbewegungen geführt.

Wurde daher auch ein aggressiver Zinssenkungszyklus von der US-Notenbank Fed erwartet?

Ende des letzten Jahres gab es die Erwartung, dass die Fed einen aggressiven Zinssenkungszyklus starten würde. Und obwohl diese Erwartungen im Laufe des ersten Halbjahres zurückgenommen wurden, hat dieser Optimismus seitdem kaum nachgelassen. Zum Beispiel sind die Corporate Credit Spreads, also die Risikoprämie, die Investoren für das Halten von Unternehmensanleihen erhalten, in der Nähe ihrer historischen Tiefststände und haben in einer engen Bandbreite gehandelt, was bedeutet, dass ein hoher Optimismus herrscht – also keine Rezession. Der einzige Markt, der bezüglich eines aggressiven Zinssenkungszyklus aufgrund der anhaltend hohen Inflation skeptischer war, war der für Staatsanleihen.

Und wer hat letztendlich Recht?

Das ist eine schwierige Frage. Es gibt darauf nicht eine Antwort, da wir über die Divergenz der Widerstandsfähigkeit verschiedener Volkswirtschaften sprechen.

Wie widerstandsfähig ist die globale Wirtschaft?

Wir haben untersucht, warum die globale Wirtschaft eine tiefere Rezession und eine synchronisierte globale Rezession, die nach diesem aggressiven Zinserhöhungszyklus zu erwarten gewesen wäre, verhindert hat. Dabei spielen das fiskalpolitische Erbe und Ungleichgewichte nach der Pandemie eine Rolle. In den USA führte der feste Arbeitsmarkt dazu, dass Geld ausgegeben und mehr konsumiert wurde, während in Europa der Konsum nicht so stark war und die Sparquote gestiegen ist. Dies nennen wir eine zyklische Abweichung zwischen den Volkswirtschaften: Es gibt einige Länder mit stärkerer zyklischer Wirtschaft wie die USA, Indien und Indonesien. Dann gibt es schwächere Länder in Bezug auf den Konjunkturzyklus wie Europa, das Vereinigte Königreich oder China.

Welche Vorteile haben die USA noch?

Die Produktivität ist hoch, die demografische Entwicklung ist nicht so schlecht wie in anderen Ländern und man ist weniger abhängig von geopolitischen Veränderungen, da die Wirtschaft sehr nach innen gerichtet ist und nicht so stark vom Handel abhängt. Alle diese Faktoren führen zu einem strukturell stabilen Umfeld für die US-Wirtschaft. Wir glauben daher, dass das Wachstum der US-Wirtschaft in den nächsten zwei bis fünf Jahren stärker sein wird als in vielen anderen Volkswirtschaften.

Wie ordnen Sie die aktuelle Situation ein, nachdem der Kampf gegen die Inflation als gewonnen erscheint?

In Abwesenheit einer Rezession wird sich die Inflation als hartnäckiger erweisen und die US-Notenbank Fed wird nicht so viel Spielraum für Zinssenkungen haben. Es wird zwar immer noch Zinssenkungen geben, aber wir erwarten, dass die Zentralbanken in den schwächeren Volkswirtschaften, die strukturell und wirtschaftlich schwächer sind, mehr intervenieren müssen. Das bedeutet, dass wir in den nächsten zwei bis fünf Jahren eine noch grössere Divergenz erleben werden.

Welche Auswirkungen hat das auf den Dollar? Der Dollar spielt auch eine wichtige Rolle die Entwicklungsländer.

Der Dollar hat seit über zehn Jahren an Stärke gewonnen. Es wird irgendwann eine Art Umkehrung geben – aber der Dollar handelt in langen Zyklen. Wir sind jedoch der Meinung, dass es noch zu früh ist, von einem Beginn einer länger anhaltenden Schwäche des Dollars zu sprechen. Die Geldpolitik der Fed spielt eine viel grössere Rolle.

Was sind Ihre Erwartungen bezüglich der September-Sitzung der US-Notenbank?

Wir haben bereits zu Beginn des Jahres gesagt, dass es unrealistisch ist, zu glauben, dass die Fed sechs- bis siebenmal die Zinsen senken wird. Die Fed hat ebenfalls erkannt, dass die Inflationsraten nicht so schnell wie erwünscht auf das angestrebte Niveau zurückkehren werden. Powell hat angegeben, dass dies nicht vor der zweiten Hälfte 2025 der Fall sein wird. Der Markt ist mittlerweile realistischer in Bezug auf die erwarteten Leitzinssenkungen. Dennoch haben die aktuellen Marktereignisse wieder zu Erwartungen grösserer Zinssenkungen geführt: Derzeit preist der Markt vier bis fünf Zinssenkungen für dieses Jahr und 50 Basispunkte im September ein. 

Ist dies realistisch?

Ohne Anzeichen einer Rezession halten wir dies nicht für realistisch. Wir beobachten aber die derzeitigen Entwicklungen am Markt und wenn sich das wirtschaftliche Klima deutlich verschlechtert, dann könnte die Wahrscheinlichkeit von mehr als die von uns prognostizierten ein bis drei Zinssenkungen für dieses Jahr steigen. Aber Marktbewegungen oder Sentiment sind nicht die primären Faktoren für die Fed, ihr Mandat sind Preisstabilität und Vollbeschäftigung. Mit den schwächeren Wirtschaftsdaten hat sich der Fokus von der Inflation auf den Arbeitsmarkt gewechselt. Aber der Arbeitsmarkt ist bisher noch relativ robust. Für einen beschleunigten Zinssenkungszyklus würde es weitere schwächere Arbeitsmarktdaten benötigen.

Und was erwarten Sie für das nächste Jahr?

Im nächsten Jahr wird viel von der Entwicklung der Wirtschaft abhängen. Es gibt viele Anzeichen für eine Verlangsamung des Wachstums. Der Arbeitsmarkt wird sich normalisieren, aber wir sehen bisher keine tiefgreifende Rezession. Sowohl in den USA als auch in Europa ist der Bankensektor sehr stabil. Es scheint also, dass es der Fed gelingen könnte, eine sanfte Landung zu erreichen.

Wo sehen Sie derzeit die interessantesten Möglichkeiten am Markt?

Es ist definitiv wichtig, investiert zu sein. Investment-Grade-Unternehmensanleihen sowohl in den USA als auch in Europa sind aufgrund der Einkommens- und Durationskomponente interessant. In Europa sind die Spreads weiter, aber die Gesamtrenditen niedriger und das Zeitfenster zum Investieren ist auch etwas enger. Die Schwellenländermärkte sind ziemlich attraktiv, insbesondere in lokaler Währung. Es ist möglich, ein Portfolio aufzubauen, das eine Rendite von etwa 9 Prozent erzielt. Das ist eine gute Ergänzung zum Kerninvestmentportfolio.

Anleihen hatten in den letzten Jahren nicht den besten Ruf. Ist es jetzt an der Zeit, dieses Investment wieder in ein besseres Licht zu rücken?

Ja, auf jeden Fall. Anleihen können wieder ihre traditionelle Rolle in einem diversifizierten Portfolio - ein stabiles und kontinuierliches Einkommen zu generieren - einnehmen. Diese Rolle konnten sie in den Niedrigzinsjahren nicht wahrnehmen, aber mit dem Anstieg der Zinsen sind Anleihen wieder „zurück“ und können Risikoanlagen wie Aktien wieder effektiv ergänzen.

Sie haben viel Erfahrung im Investmentbereich. Was sind die wichtigsten Tipps, die Sie weitergeben können?

Warten Sie nicht auf den perfekten Zeitpunkt, sondern seien Sie investiert. Denken Sie langfristig und diversifizieren Sie Ihr Portfolio.

Peter Becker ist seit 2018 Investment Director bei Capital Group. Davor war er in leitender Funktion bei Wellington Management tätig. Insgesamt verfügt er über knapp 30 Jahre Branchenerfahrung. Peter Becker hat einen Masterabschluss der Ingolstadt School of Management und ist CFA-Charterholder.

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