cash.ch: Herr Frisio, Anfang August haben Sie nun die umsatz- und gewinnmässig wichtigste ABB-Sparte Elektrifizierung von CEO Morten Wierod übernommen. Verspüren Sie nun mehr Druck?

Giampiero Frisio: Ehrlich gesagt: Ja. Aber ich habe überall Druck verspürt. Auch vor 30 Jahren, als ich bei ABB als Prüfingenieur begann. Aber Druck ist Teil des Jobs. Und ich denke, dass es manchmal gut ist, etwas Druck zu haben. Denn das bedeutet, dass man dazu gezwungen wird, sich zu verbessern. Aber ich bin sehr zuversichtlich. Ich bin schon seit langem in unserem Geschäft tätig. Ich habe bereits Smart Power geleitet, die grösste Abteilung der ABB-Elektrifizierung. Daher kenne ich viele Dinge schon sehr gut.

Wir befinden uns hier im ABB-Werk in Frosinone südöstlich von Rom. Sie nennen das hier eine «Vorzeigefabrik». Weshalb?

Die italienische Regierung hat vor einigen Jahren ein Programm entworfen mit dem Namen Industrie 5.0. Sie wollte herausfinden, welche Fabriken einen Massstab für die Industriestandorte im Land werden können. Drei unserer Fabriken in Italien, also hier in Frosinone, in Santa Palomba gleich in der Nähe und die ABB-Fabrik in Dalmine bei Bergamo, sind nun unter den zehn Leuchtturm-Fabriken in Italien. Das ist gut für die Automatisierung, es ist gut für das Benchmarking, für die Kompetenzen. Wir unterstützen also andere Industrien dabei, hierher zu kommen. Nicht nur wir von ABB sind stolz auf die Auszeichnung, sondern auch die lokale Bevölkerung.

Ein Claim von ABB ist, bei steigendem Stromverbrauch in Zukunft die Emissionen zu reduzieren. Wie ist das möglich, wenn die Nachfrage nach traditionellen Energieträgern wie Öl in den letzten zwei bis drei Jahren wieder gestiegen ist?

Öl und Gas, und das wird auch von der Internationalen Energieagentur vorhergesagt, werden für eine Übergangszeit weiterhin benötigt. Das Wichtigste ist aber, dass die erneuerbaren Energien viel, viel schneller als der Rest wachsen müssen. Die Prognose sieht eine Verdreifachung der erneuerbaren Energieerzeugung bis 2030 vor. Das ist enorm. Und es ist vorgesehen, dass bis 2050 rund 90 Prozent der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen stammen müssen. Wichtig ist also, dass der Anteil von Öl und Gas schrumpft und alle anderen Energiequellen wachsen. Parallel dazu ist es wichtig, dass wir uns um die Energieeffizienz kümmern. Ohne sie wird es schwierig sein, den Grenzwert von 1,5 Grad einzuhalten. 45 Prozent des Stromverbrauchs entfallen auf Elektromotoren. ABB ist ein wichtiger Akteur in diesem Bereich. Wir stellen aber auch viele Antriebe her. Wenn man einen Elektromotor mit einem Antrieb ausstattet, kann man den Energieverbrauch bis 25 Prozent senken, je nach Anwendung. Nur 23 Prozent aller weltweit installierten Motoren sind mit Antrieben ausgestattet. Wenn alle Motoren mit Antrieben ausgestattet wären, könnten wir den Energieverbrauch der Welt erheblich senken. Die Technologie ist also vorhanden. 

In vielen Ländern, so in der Schweiz, steht der Bau von neuen Kernkraftwerken zur Debatte. Glauben Sie, dass wir in Zukunft die Kernkraft brauchen, um den Energiebedarf zu decken?

Tatsache ist: Wenn man ein Kraftwerk bauen will, dann reden wir von einem Zeithorizont von etwa 20 Jahren. Aber wir dürfen nicht nur langfristig, sondern auch mittelfristig denken. Mittelfristig müssen wir die erneuerbaren Energien vorantreiben. Für die Zeit danach gibt es viele Studien zu modularen Reaktoren. Ich glaube, dass dies ein Markt sein wird, der früher kommen wird als grosse Kraftwerke.

Es gibt derzeit Rezessionsbefürchtungen nicht nur in den USA, sondern überall auf der Welt. Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage der Weltwirtschaft und wie sehen Sie diesbezüglich die Zukunft?

Solche Prognosen sind immer schwierig. Was wir bei uns sehen: Die Energiesektoren wachsen immer noch auf eine gute Art und Weise, vor allem wegen des Bereichs Datenzentren, der in den USA besonders stark zulegt. Angetrieben wird das Wachstum auch durch die Verlagerung vieler industrieller Tätigkeiten, etwa aufgrund des Anreizplans der US-Regierung. China leidet immer noch, vor allem weil der Wohnungs- und Bausektor derzeit schwach ist. Es gibt keine Anzeichen für einen baldige Turnaround. Wir glauben dennoch, dass China trotzdem ein sehr wichtiger Markt ist. Wir sprechen hier von einem Markt mit 1,5 Milliarden Menschen. Wir investieren als Unternehmen weiterhin in China.

Und in Europa?

In Europa sind die Dinge etwas gemischt. Im südlichen und nördlichen Teil Europas wächst die Industrie immer noch. In Deutschland leidet der Industriesektor am meisten, welcher mit der Autoindustrie verbunden ist. 

Im zweiten Quartal wuchsen Umsatz und Auftragseingang in der ABB-Elektrifizierungssparte rund 7 Prozent. Was könnten die Triebkräfte für zusätzliches Wachstum für den Rest des Jahres sein?

Die Treiber sollten die gleichen sein. Es wird die Energieversorgung sein, es werden Datenzentren sein und die Energieeffizienz. Das sind die drei wichtigsten Wachstumstreiber, die mit der Energiewende verbunden sind. Sie waren es, die uns zu Wachstum verholfen haben.

ABB hat kürzlich einen Teil des Elektrifizierungsgeschäfts von Siemens in China gekauft. Sind weitere Akquisitionen ein Thema?

Mit Siemens haben wir einen Vertrag über einen Kauf dieser Geschäfte gemacht. Wir haben auch ein Dienstleistungsunternehmen in den USA erworben, das sich mit der Wartung von Rechenzentren befasst. Das ist eine gute Expansion, was die geografische Lage betrifft. Wir haben dieses Jahr auch einige Joint Ventures abgeschlossen. Wir sind also aktiv, und wir hoffen, dass wir bis zum Jahresende noch etwas mehr erreichen können.

Haben Sie konkret Ziele ausgemacht?

Ja. Aber wissen Sie, wir sind immer auf der Suche, wir haben immer verschiedene Szenarien und verschiedene Ziele.

Wie laufen die Geschäfte derzeit in der Division Elektrifizierung?

Das Wachstum im zweiten Quartal war bereits gut. Die Chancen stehen gut, dass wir das Gesamtjahr innerhalb des von uns definierten Korridors abschliessen werden. Am Kapitalmarkttag haben wir gesagt, dass unser Ziel ein Wachstum zwischen 5 und 7 Prozent während des Zyklus ist. Ich bin zuversichtlich, dass wir auch die operative Gewinnmarge über 20 Prozent halten können.

Sie sind seit 1995 bei ABB. Sie haben nie den Job gewechselt. Weshalb?

Ich liebe dieses Unternehmen. Es lässt einem viele unternehmerische Freiheiten. Es ist schwierig, jemanden zu finden, der ‹Nein› sagt, wenn man mit Vorschlägen kommt. Klar, man muss die Leute überzeugen, man muss innerhalb des Unternehmens auch Allianzen finden. Aber wenn man etwas tun will, kann man es tun.

Der Italiener Giampiero Frisio (Jahrgang 1969) ist seit Anfang August 2024 Leiter «Electrification», der grössten Sparte von ABB. Er folgte auf Morten Wierod, der als Nachfolger für den zurückgetretenen Björn Rosengren als CEO an die Spitze des Konzerns berufen wurde. Elektrifizierung trug 2023 mit 14,6 Milliarden Dollar rund 45 Prozent und damit den grössten Teil der vier Sparten zum Umsatz von ABB bei. Mit einer operativen Gewinnmarge 20 Prozent war sie gleichzeitig die profitabelste. Die Geschäftssparte stellt unter anderem Elektrokomponenten oder -module für Anlagen zur Energiegewinnung, für Rechenzentren oder zur Steuerung intelligenter Haustechnik her.

Frisio hat sein gesamtes Berufsleben bei ABB verbracht. Zuletzt leitete er sechs Jahre lang die ABB-Division Smart Power. Er liess sich an der Universität Pavia zum Elektroingenieur ausbilden.

Das Interview fand im Rahmen einer Medienreise statt, die von ABB organisiert wurde.

Daniel Hügli
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