cash.ch: Wie nehmen Sie die Stimmung an den Märkten momentan wahr?
Anastassios Frangulidis: Die Stimmung war Ende September gemessen an mehreren Indikatoren sehr negativ. Diese haben im Oktober und im November eine klare Erholung gezeigt. Vom Sentiment her haben wir keine extreme Positionierung mehr.
Gilt dies für Privatanleger oder für institutionelle Investoren?
Der Unterschied zwischen institutionellen und privaten Anlegern hat sich im Jahresverlauf deutlich verringert. Wegen der Rezessionsgefahr in den USA und Europa bleiben die Investoren bei Aktien insgesamt recht vorsichtig.
Seit Anfang Oktober findet an den Aktienmärkten eine kleine Rally statt. Der Swiss Market Index (SMI) hat in den letzten vier Wochen 6 Prozent gewonnen. Ist diese Erholung nachhaltig?
Es ist keine nachhaltige Erholung. Der Hauptgrund für das aktuelle Zwischenhoch ist die erwähnte negative Stimmung Ende September. Aktuell gibt es kaum fundamentale Gründe, die für eine nachhaltige Erholung sprechen. Zudem wenn eine Baisse zu Ende geht, gibt es am Schluss meistens noch sehr starke Preisbewegungen.
Die Republikaner werdennach den US-Zwischenwahlen vom Dienstag ziemlich sicher eine Kammer im Kongress kontrollieren. Warum gibt diese Aussicht den Aktienmärkten wie in der Vergangenheit keinen Rückenwind?
Es ist die Regel, dass die Partei des amtierenden Präsidenten in den Zwischenwahlen die Kontrolle über die Legislative zum Teil verliert. Damit wird Biden in Bezug auf die fiskalischen Ziele weniger Freiheiten haben. Doch im Moment befinden wir uns sowieso in einer Phase, wo die US-Notenbank Fed die Nachfrage schwächen will. Der Sieg der Republikaner ist daher für die Finanzmärkte nicht die wichtigste Sache.
Was bräuchte es für eine nachhaltige Erholung?
Für diese bräuchte es Signale, dass die Fed ihren restriktiven Kurs bei der Ausgestaltung der Geldpolitik revidiert. Oder eine Verbesserung der konjunkturellen Lage und daher der Gewinnerwartungen. Auf Letzteres müssen wir mit hoher Wahrscheinlichkeit noch einige Zeit warten.
Wie weit wird die Fed die Zinsen erhöhen?
Fed-Präsident Powell hat bei der letzten Sitzung angedeutet, dass der höchste Satz bei diesem Leitzinserhöhungszyklus höher sein wird als was man zuvor dachte. Die Märkte gehen mittlerweile davon aus, dass dieser schlussendlich bei etwa 5 Prozent liegen wird. Das scheint eine nachvollzierbare Erwartung zu sein.
Wird eine Rezession in den USA die geldpolitische Trendwende nicht beschleunigen?
Es hat sich dieses Jahr wiederholt gezeigt, dass Powell klar das Hauptziel verfolgt, die Inflation zu bekämpfen. Eine Rezession wird hingenommen. Wichtiger ist deshalb, wie die Inflationsdaten nach einer Verschlechterung der konjunkturellen Lage aussehen. Viele Prognostiker gehen davon aus, dass die Inflationsrate in den USA Ende 2023 bei 3 bis 3,5 Prozent liegen wird. Kommt der Rückgang schneller, dann hätte die Fed mehr Spielraum.
Was ist Ihr geldpolitisches Szenario für das nächste Jahr?
Es ist noch zu früh, um über eine Senkung des Leitzinses zu diskutieren. Doch in der ersten Hälfte des nächsten Jahres sollte der Leitzinserhöhungszyklus abgeschlossen sein. Dann werden wir auch sehen, wie sich die Lage auf der Inflations- und Konjunkturseite entwickelt.
Inwiefern hat dieses absehbare Ende der Leitzinserhöhungen in den USA Konsequenzen für die Dollarstärke?
Der Dollar ist stark überbewertet. Für eine Abschwächung wäre notwendig, dass die Geldpolitik in den USA revidiert wird und die Realverzinsung tiefer wird. Wenn dieser Prozess beginnt, kann die Korrektur beim Dollar deutlich sein.
Die US-Wirtschaft hat dieses Jahr bereits deutlich an Fahrt verloren. Wie geht es nächstes Jahr weiter?
Es gibt viele Aspekte, die für eine weitere Abschwächung der US-Konjunktur sprechen. Ein Grund sind die höheren Zinskosten für die Schuldner. Oder auch das sinkende Nettovermögen der Haushalte, da Anleger an den Finanzmärkten Geld verloren haben. Und jetzt beginnt auch die Korrektur bei den Immobilienpreisen. Der Immobilienmarkt selbst hat sich bereits klar abgekühlt, da die Refinanzierungskosten von Hypotheken stark gestiegen sind. All diese Effekte sprechen dafür, dass sich die US-Wirtschaft im nächsten Jahr am Rande einer Rezession befinden wird.
Doch der US-Konsument ist weiterhin in guter Verfassung…
Im Schnitt braucht es etwas zwölf bis achtzehn Monate, bis die restriktivere Geldpolitik im Konsum richtig ankommt und diesen rezessiv macht. Zudem haben die US-Haushalte, während Covid ihre Ersparnisse massiv erhöht, weil sie weniger ausgegeben und Unterstützung durch den Staat erhalten haben. Diese Ersparnisse werden jetzt abgebaut. Dies macht die Geschwindigkeit des Nachlassens des Konsums weniger stark als es sonst der Fall gewesen wäre.
Dieser wirtschaftliche Ausblick verspricht also nichts Gutes für die Gewinne der Unternehmen?
Wir befinden uns bereits in einer Phase, wo die Gewinnschätzungen nach unten revidiert werden. Dieser Prozess hat vor vier Monaten begonnen und hält an.
Was ist bezüglich der steigenden Zinsen und niedrigeren Unternehmensgewinnen am Aktienmarkt bereits eingepreist?
Wir haben ein Jahr, wo die globalen Aktienmärkte etwas mehr als 20 Prozent eingebrochen sind. Diese Korrektur kommt ausschliesslich aus der Korrektur der Bewertungen infolge des Anstiegs der Realzinsen. Diese waren im letzten November im zehnjährigen Bereich bei minus 1 Prozent, jetzt bei plus 1,7 Prozent. Dies hat dazu geführt, dass das Kurs-Gewinn-Verhältnis in den USA von 22 im letzten Jahr auf 17 zurückgekommen ist. Diese Korrektur auf der Bewertungsseite war so stark, dass ohne den positiven Beitrag der Gewinne in diesem Jahr die Aktienmärkte noch tiefer stehen würden. In den letzten Monaten sind aber die Gewinnerwartungen runtergekommen und ihr Einfluss auf den Aktienmarkt ist negativ geworden. Was bis jetzt eingepreist wird, ist eine Abschwächung der Konjunktur, aber keine rezessive Lage.
Was bedeutet dies für die kommenden Monate?
Eine Rezession und damit einhergehende Gewinnrevisionen sind am Markt sicherlich noch nicht eingepreist. Dieser Prozess hat erst begonnen und wird einige Zeit anhalten. Ich gehe davon aus, dass im ersten Quartal 2023 der Höhepunkt der negativen Gewinnrevisionen erreicht sein wird. Bei den Bewertungen hingegen ist bereits sehr viel Negatives eingepreist. Sie werden im Jahr 2023 wahrscheinlich einen positiven Beitrag an den Aktienmärkten leisten.
Die Aktienmärkte werden sicherlich bis im ersten Quartal wegen der Gewinnrevisionen unter Druck bleiben?
Es sieht danach aus. Damit es besser kommt muss, entweder die Fed eine geldpolitische Kehrtwende vollziehen oder die konjunkturell bedingten Gewinnrevisionen eingepreist sein. Letzteres wird es bis zum ersten Quartal 2023 kaum der Fall sein.
Der Korrekturmodus wird anhalten…
Ja. Wir reden über die Korrektur an den Aktienmärkten, doch die ganz grosse Korrektur fand bei den Anleihen statt. Der Diversifikation in einem ausgewogenen Portfolio hat nicht wie zuvor erwartet geholfen. In den letzten zwei Jahrzehnten sind bei einer Korrektur am Aktienmarkt die Obligationenpreise gestiegen, was das Portfolio gegen unten schützte. Dies ist dieses Mal aufgrund des sehr starken Anstiegs der Inflation nicht der Fall gewesen. Bei den zehnjährigen US-Staatsanleihen, etwas vom sichersten auf der ganzen Welt, haben Investoren eine Bewertungskorrektur von 25 Prozent erlebt.
Gibt es bei Anleihen im nächsten Jahr Opportunitäten?
Die Anlageklasse Obligationen ist wieder an einem Punkt, wo man nachhaltig investieren kann. Diese können wieder einen höheren Anteil in einem Portfolio einnehmen, da sie heute eine klare bessere und positive Realverzinsung anbieten. Dies war in den letzten Jahren nicht der Fall. Besonders hoch ist die Realverzinsung bei den Schwellenländeranleihen. Das macht sie zunehmend attraktiver.
Winken hier in den nächsten Jahren neben der hohen Verzinsung auch Bewertungsgewinne?
Die Performance dieses Jahres war so schlecht, dass man von einer verlorenen Dekade im Obligationenbereich sprechen kann. Das strukturelle Umfeld hat sich für Obligationen deutlich verbessert. Auch taktisch gesehen ist die Ausgangslage im Verlauf des neuen Jahres für Staatsanleihen sehr gut, da die Erwartungen an die Leitzinsen sicherlich nicht tief sind.
Wo sehen Sie für die Märkte die grössten Risiken für die nächsten Monate?
Das Hauptrisiko besteht darin, dass die Geldpolitik länger als erwartet restriktiv bleibt. Wenn die Inflation entgegen der Erwartung weniger schnell zurückgeht, wäre die Fed gezwungen, vorsichtiger zu bleiben. In diesem Fall wäre das Umfeld für die Finanzmärkte länger anspruchsvoll.
Der Aktienmarkt wird bis in das nächste Jahr hinein unter Druck sein. Wie soll man sich als Anlegerin oder Anleger verhalten?
Diese haben dieses Jahr mit fast sämtlichen Anlageklassen deutliche Verluste erlitten. Eigentlich konnte man sich dieses Jahr mit Ausnahme der Energiewerte nur mit Cash schützen. Das wird sich im neuen Jahr nicht wiederholen. Die Erholung wird zuerst bei den Anleihen kommen. Der Tiefpunkt bei den Aktien wird erst zu einem späteren Zeitpunkt folgen. So gibt es im nächsten Jahr sicherlich bessere Chancen als in diesem Jahr.
Warren Buffet sagte einmal, man soll dann kaufen, wenn alle anderen Panik haben…
Diesen Ratschlag umzusetzen ist in der Realität sehr schwierig. Ein langfristig denkender Investor sollte eine Anlagestrategie aufgrund seiner Risikobereitschaft und -fähigkeit definiert haben und diese in Zeiten hoher Volatilität und sinkender Kurse nicht verlassen. Sonst besteht die Gefahr, dass man die darauffolgende Erholung verpasst und die langfristig gesteckten Anlageziele nicht mehr erreichen kann. Man darf in der Krise wie in der Hausse keine leichtsinnige Änderung an der Strategie vornehmen.
Wo können Anlegerinnen und Anleger derzeit am Aktienmärkt als Käufer in Erscheinung treten?
In einer Konjunktureintrübung sind Unternehmen gefragt, die weiterhin stabile Gewinne ausweisen. Dazu gehören Gesundheitswerte oder nichtzyklische Konsumgüterhersteller. In der Schweiz haben wir mit Roche, Novartis und Nestlé drei Schwergewichte in diesen Sektoren. Im Falle einer vollständigen Öffnung der chinesischen Volkswirtschaft von den langjährigen Lockdowns würden Grundstoffe von dieser Entwicklung profitieren. Dies gilt auch, wenn die Inflation länger als gedacht hoch bleibt.
Anastassios Frangulidis ist seit 2016 Chefstratege und Leiter Multi Asset im Team Zürich bei Pictet Asset Management. Zuvor war er viele Jahre Chefökonom der Zürcher Kantonalbank (ZKB). Dort war er auch als Chefstratege für das Multi-Asset-Research verantwortlich.