cash.ch: Die Märkte reagierten letzte Woche euphorisch auf die Fed-Zinssenkung um 50 Basispunkte. Wie erklären Sie sich das?

Daniel Hartmann: Im zweiten Quartal verzeichneten die USA ein Wachstum von 3 Prozent, und im aktuellen Quartal könnte ebenfalls ein Zuwachs von über 2 Prozent erreicht werden - und trotzdem senkt die Fed kräftig die Zinsen. Eine anhaltend positive Wirtschaftsentwicklung wird in den Augen der meisten Investoren somit immer wahrscheinlicher.

Viele dachten zunächst, dass eine Senkung um 50 Basispunkte ein negatives Zeichen wäre.

Die Fed hat nun eine deutliche Zinssenkung vorgenommen, aber gleichzeitig signalisiert, dass sie zukünftig langsamer agieren wird. Dadurch konnte sie den Eindruck vermeiden, aus Angst um die Wirtschaft zu handeln. 

Die Fed propagiert ein Szenario des «Soft Landing»?

Die Fed geht sogar von einem «No Landing»-Szenario aus, bei dem die Inflation auf 2 Prozent fällt und das Wachstum robust bleibt. Es ist eine Win-win-Situation: Weniger Inflation bei stabilem Wachstum und gleichzeitig sinkende Zinsen Richtung 3 Prozent. Das wäre optimal für die Märkte.

Was ist Ihr Szenario?

Wir gehen davon aus, dass die Zinsen bis Mitte 2025 mindestens auf drei Prozent gesenkt werden, was als neutrales Niveau gilt. Sollte sich die Wirtschaft deutlich abkühlen, könnten sie sogar unter drei Prozent fallen.

Gleichzeitig sind die Bewertungen der Aktienmärkte recht hoch. Wie anfällig sind die Märkte?

In den USA liegt das Kurs-Gewinn-Verhältnis aktuell bei etwa 23 auf Basis der erwarteten Gewinne, während der historische Durchschnitt bei 18 liegt. Die Gewinnschätzungen für das nächste Jahr zeigen im S&P 500 eine durchschnittliche Steigerung von 15 bis 16 Prozent. Solch ein Gewinnwachstum müsste sich in den Einkaufsmanager-Indizes (PMI) mit einem Wert von etwa 55 widerspiegeln, derzeit liegt die Industrie jedoch unter 50. In unseren Augen ist es wahrscheinlich, dass die Gewinnschätzungen um 10 Prozent gekürzt und die Bewertungsniveaus leicht nach unten korrigiert werden, was zu Rücksetzern von 10-15 Prozent führen könnte.

Eine deutliche Wachstumsabschwächung wäre Gift für die Märkte.

Zwar sind die wirtschaftlichen Daten in den USA immer noch robust, und die Inflationsraten sind gesunken. Dennoch gab es Anfang August einige Rückschläge – insbesondere am Arbeitsmarkt. Es besteht somit die Angst, dass das Wachstum in den USA nicht bei 2 bis 3 Prozent bleiben wird.

Was ist Ihre Prognose?

Wir glauben, dass sich das Wachstum in den USA abschwächt. Die «Sparüberhänge» aus der Pandemie sind erschöpft, was den Konsumboom bremst. Die Sparquote liegt nur noch bei 2,9 Prozent, was selbst für amerikanische Verhältnisse extrem niedrig ist. Jetzt müssen sich viele verschulden, um ihren Konsum weiterhin auf dem gleichen Niveau zu halten. 

Droht in den USA eine Reduktion der Konsumausgaben?

Verschuldung könnte ein Ausweg sein, ist aber trotz Leitzinssenkungen immer noch teuer. Kreditkartenzinsen liegen im Durchschnitt bei über 20 Prozent und damit weiterhin in der Nähe des Allzeithochs. Bei den Hypothekenkrediten waren viele Haushalte bisher durch alte Zinsbindungen geschützt, doch diese laufen allmählich aus, was zu höheren Zinskosten führt. Unser Konsum-Dienstleistungsindikator, der Brems- und Stützeffekte quantifiziert, zeigt, dass die Bremsfaktoren überwiegen. Die Konsumnachfrage sollte daher in den kommenden Quartalen nachlassen.

Bis wann werden die Effekte sichtbar?

Die belastenden Effekte sollten bereits Ende dieses Jahres oder spätestens Anfang nächsten Jahres deutlich sichtbar werden. Diese Schwäche dürfte mindestens bis Mitte nächsten Jahres anhalten. In einigen Daten kann man die Tendenzen bereits jetzt erkennen. Die Einzelhandelsumsätze befinden sich beispielsweise im Vorjahresvergleich bereits im Abwärtstrend. Trotz dieser Entwicklung reicht es derzeit noch für ein BIP-Wachstum von gut 2 Prozent.

Es ist wohl eine Fehlannahme, dass Zinssenkungen sofort einen positiven Einfluss haben.

In der Tat jubeln jetzt viele über die Zinssenkungen und gehen davon aus, dass diese sofort einen neuen Schub bringen. Allerdings braucht es wie Zinserhöhungen Zeit, bis solche Massnahmen wirken. Die 30-jährigen Hypothekenzinsen in den USA sind seit Ende 2023 von 8 Prozent auf 6,5 Prozent gefallen, was immer noch hoch ist im Vergleich zu den 3 Prozent vor drei Jahren. 

Wie schätzen Sie die Lage der EZB und der europäischen Wirtschaft ein?

Die EZB hat bereits zwei Zinsschritte gemacht, und die Inflation in der Eurozone nähert sich dem Ziel. Im September dürfte die Inflationsrate aufgrund der Energiepreise unter 2 Prozent fallen. Das Hauptproblem in Europa bleibt das Wachstum. Während in den USA das Wachstum von einem hohen Niveau aus abnimmt, sehen wir in der Eurozone nur eine vorsichtige Erholung, die kaum über 1 Prozent im Vorjahresvergleich hinauskommt.

Wo liegt das Problem der Eurozone?

Positiv zu werten ist, dass das Lohnwachstum in der Eurozone 4 bis 5 Prozent beträgt, während die Inflation in diesem Jahr bei durchschnittlich knapp 2,5 Prozent liegt, was real zu Einkommenszuwächsen führt. Dennoch dominiert derzeit das Angstsparen, und die hohe Sparquote hemmt den Konsum. Um die wirtschaftliche Dynamik zu steigern, wäre ein Exportanstieg notwendig. Wir sind jedoch skeptisch, dass dies gelingt. Daher sprechen wir von einem ‹blutleeren› oder schwach ausgeprägten Aufschwung in der Eurozone.

Was bedeutet dieser konjunkturelle Ausblick für die EZB?

Das lediglich moderate Wachstum gibt der EZB die Möglichkeit, die Leitzinsen auf ein neutrales Niveau zu senken. Insgesamt erwarten wir, dass die EZB relativ zügig auf etwa 2 Prozent geht.

Die Inflation hat sich erfreulicherweise stabilisiert und zurückgebildet. Wie nachhaltig ist diese Entwicklung?

Die aktuelle Entspannung beruht zu einem grossen Teil auf Basiseffekten im Energiebereich. Diese sind zwar immer noch höher als vor einigen Jahren, aber niedriger als letztes Jahr. Der Lohndruck bleibt jedoch hoch und treibt die Preise für Dienstleistungen, sowohl in Europa als auch in den USA. Mittelfristig erwarten wir überdies steigende Rohstoffpreise aufgrund des hohen Bedarfs im Kampf gegen den Klimawandel. E-Autos und Stromnetze erfordern viele Industriemetalle wie Kupfer

Wenn die Weltwirtschaft wieder anzieht, wird der Inflationsdruck wieder steigen. Sind Sie davon überzeugt?

Die Inflationsraten der Eurozone und der USA werden nächstes Jahr auf etwa zwei Prozent fallen – diese Marke aber nicht erkennbar nach unten durchstossen. Wir sind weit von einem deflationären Umfeld entfernt. Die nächste wirtschaftliche Erholung wird von einem höheren Teuerungsniveau aus starten. 

Was sind langfristig die grössten Gefahren für die Märkte?

Einen grossen Crash sehen wir aktuell nicht, da es keine erheblichen Ungleichgewichte - etwa im Bankensektor - gibt. Ein grosses Thema ist jedoch die zunehmende Staatsverschuldung in den USA, die sich zu einer langfristigen Gefahr entwickeln könnte.

Die Schuldenquote liegt bei 123 Prozent, gegenüber 56 Prozent im Jahr 2000. Was kommt auf die USA zu?

Die USA haben in den Jahren 2020 und 2021 Fiskalpakete im Umfang von 5 Billionen Dollar geschnürt, was kurzfristig half, aber die Staatsverschuldung erheblich erhöhte. Solche Massnahmen sind nicht unbegrenzt wiederholbar, da die Zinsausgaben bereits jetzt mehr als 10 Prozent der Staatseinnahmen ausmachen und weiter steigen könnten.

Was sind die langfristigen Folgen?

Die steigenden Zinsausgaben könnten irgendwann 20 bis 30 Prozent der Staatseinnahmen einnehmen und die Handlungsfähigkeit der Regierung einschränken. Finanzmärkte und Ratingagenturen, die bereits herabgestuft haben, könnten weiter Druck ausüben. Hinzu kommt, dass Länder wie China und andere Schwellenländer möglicherweise weniger Dollar halten wollen und sich von den USA entkoppeln. Diese kombinierten Faktoren könnten langfristig eine bedrohliche Situation für die Märkte darstellen.

Was gibt es für Möglichkeiten für einen Staat, dieses Problem zu lösen?

Um die Staatsfinanzen zu konsolidieren, muss die Regierung entweder Steuererhöhungen oder Ausgabenkürzungen vornehmen. In den USA lagen die jährlichen Haushaltsdefizite zuletzt zumeist zwischen 6 und 8 Prozent. Irgendwann muss man hier die Bremse ziehen, ähnlich wie in den 80er Jahren mit dem sogenannten ‹Volcker-Effekt› oder wie in Griechenland, als die Troika eingriff. In den USA könnte der Druck von den Finanzmärkten kommen, was eine Rezession auslösen könnte. Das wäre das Ende eines Prozesses, der den übermässigen Glauben an die expansive Geld- und Fiskalpolitik dämpfen würde. 

Haben Sie historische Vergleiche für die heutige Situation?

Die expansive Geld- und Fiskalpolitik hatte sich in den 1970er und 1980er Jahren eigentlich stark entzaubert. In den 90er Jahren und frühen 2000er Jahren hielt man sich daher eher zurück, aber seit den grossen Fiskalpaketen nach dem 11. September hat die Politik wieder mehr Vertrauen in die Makropolitik gewonnen. Heute versucht man praktisch jede kleine Konjunkturdellen mit niedrigen Zinsen und hohen fiskalpolitischen Ausgaben zu glätten.

Hat man den Märkten nicht die Kraft der Bereinigung genommen?

Ja, das stimmt. In den letzten 20 Jahre schien die expansive Geld- und Fiskalpolitik zunächst zu funktionieren. Diese Praktiken wurden von Notenbankern wie Greenspan populär gemacht und fanden breite Akzeptanz. Allerdings ist mit Blick auf die Geldpolitik angesichts von Negativzinsen und massive QE-Programme inzwischen Ernüchterung eingekehrt, besonders im Zuge des jüngsten Inflationsschubs. Auch die Fiskalpolitik wurde während der Pandemie verstärkt eingesetzt, stösst jedoch inzwischen ebenfalls an ihre Grenzen.

Hat die Fiskalpolitik ihr Limit erreicht?

Bei der Fiskalpolitik dürfte die Ernüchterung mithin noch offen zu Tage treten. Japan wurde oft als Beispiel genannt, wo die hohe Staatsverschuldung dank fallender Zinsen verkraftet wurde. Doch steigende Zinsen machen solche Strategien zunehmend riskant, wie das Beispiel der britischen Premierministerin Liz Truss zeigt, deren ambitionierte Pläne schnell auf Marktgegenwind stiessen. Langfristig wird klar, dass der Haushalt im Griff sein muss. Was benötigt wird, sind entschlossene Führungspersönlichkeiten wie einst Paul Volcker oder Margaret Thatcher, die bereit sind, Zinsen zu erhöhen, Ausgaben zu kürzen und Steuern zu erhöhen, selbst wenn dies die Wirtschaft kurzfristig in eine Rezession stürzt.

Fehlen derzeit solche Persönlichkeiten?

Ja, solche Führungspersönlichkeiten fehlen aktuell. Viele wollen den Druck der Finanzmärkte abschaffen, wie zum Beispiel in der Eurozone, wo die EZB bei zu grossen Spread-Ausweitungen eingreift. Das nimmt den Märkten den disziplinierenden Effekt.

Sind Finanzmärkte der letzte Gegenpol?

Viele sehen Finanzmärkte als Bedrohung und kritisieren ihre liberalen Strukturen. Doch der Marktdruck ist wichtig, um fiskalische Disziplin zu gewährleisten. Abschaffung von Rating-Agenturen oder Nivellierung der Spreads wären kontraproduktiv.

Wie können sich Anleger schützen?

Als Anleger sollte man diversifizieren. Mit US-Technologieaktien alleine bewegt man sich auf dünnem Eis. Man sollte auch in Gold, Industriemetalle, Aktien aus Schwellenländern, Cash verschiedener Währungen und Staatsanleihen investieren, auch wenn die Renditen in Ländern wie der Schweiz oder Deutschland sehr niedrig sind. Zudem sind Staatsanleihen aus skandinavischen Ländern und Kanada eine Option.

Dr. Daniel Hartmann ist seit 2017 Chefökonom beim Asset Manager Bantleon in Zürich und in dieser Funktion für die Finanzmarktprognosen bei Anliehen und Aktien sowie die Analyse der globalen Konjunktur und Geldpolitik verantwortlich. Zuvor war er viele Jahre Senior Analyst Economic Research bei Bantleon.

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