Kaufen, verkaufen oder abwarten? Diese Frage dürften sich viele Anlegerinnen und Anleger an den Börsen in den Wochen seit dem 2. April verstärkt gestellt haben, als US-Präsident Donald Trump mit seinen Zollankündigungen die Börsen weltweit auf eine Achterbahnfahrt schickte. Ob sich die Lage bald stabilisieren wird, bleibt weiter ungewiss.

cash.ch hat bei Thorsten Hens, Experte für Behavioral Finance und Professor an der Universität Zürich, nachgefragt, wie Investorinnen und Investoren mit der unsicheren Marktlage umgehen können und was es mit dem Kapitulationspunkt auf sich hat.

cash.ch: Herr Hens, investieren Sie auch? 

Thorsten Hens: Ja. Seit 1981, um genau zu sein. 

Wie haben Sie die jüngsten Kursausschläge erlebt? 

Ich war überrascht, wie stark die Märkte reagiert haben. Das habe ich nicht erwartet. Den Trump mit seinen Zöllen gab es ja schon einmal. Aber damals war es bei weitem nicht so extrem wie jetzt. Hätte ich gewusst, dass die Ausschläge so heftig sind, wäre ich nicht so stark investiert gewesen. Jetzt habe ich schon etwas Geld verloren.

Und was haben Sie dann gemacht?

Dies ist nicht meine erste Achterbahnfahrt an der Börse. Ich habe über die Jahre gelernt, oder anders gesagt, die Statistik zeigt, dass sich die Märkte wieder erholen. Und das wird auch diesmal der Fall sein. Meine Strategie lautet deshalb: Nachkaufen.

Sind die Reaktionen an den Märkten diesmal anders ausgefallen als in anderen Krisenzeiten?

Nein, die Börsenpsychologie zeigt, dass die Reaktionen der Anleger immer einem bestimmten Muster folgen: Nach der Euphorie, also auf dem scheinbaren Höhepunkt, kommt die Angst, was alles noch kommen könnte. Dann kommt die Verleugnung, dass das alles nicht passiert ist und sich der Markt schon wieder beruhigen wird. Dann fällt der Aktienkurs weiter, die Anleger durchleben Angst, Verzweiflung, Panik bis hin zur Kapitulation, wo sie dann alles verkaufen. Dann setzt die Niedergeschlagenheit ein, und damit ist der Tiefpunkt des Zyklus erreicht. In der darauf folgenden Depressionsphase, in der man dem verlorenen Geld nachtrauert, sich vielleicht als Idiot bezeichnet, aber auch das Geschehene akzeptiert und sich verspricht, daraus gelernt zu haben, folgen die Zweifel, ob es sich bei einer Aufwärtsbewegung an den Märkten nur um eine Rallye handelt, danach hofft man wieder, wird optimistisch, beginnt an die Börse zu glauben, bis man wieder bei der Euphorie angelangt ist. Wir alle, die wir investiert sind, durchleben diesen Zyklus. Entscheidend ist, und da ist jeder anders, wann er oder sie seinen Kapitulationspunkt erreicht hat.

Also wie starke Schwankungen ein Anleger, eine Anlegerin aushalten kann?

Genau. Während ich vielleicht 50 bis 60 Prozent Verlust verkrafte, kapitulieren Sie vielleicht schon bei 20 Prozent. Wir beobachten, dass bei jemandem, der zum ersten Mal eine Börsenkrise erlebt, die Nerven viel schneller blank liegen als bei jemandem, der den Zyklus schon mehrmals durchlaufen hat. Generell gilt: Je öfter jemand den Zyklus durchlaufen hat, desto später kommt der Zeitpunkt der Kapitulation.

Was kann jemand tun, der erst seit kurzem an der Börse investiert ist, um die Schwankungen auszuhalten?

Vereinfacht gesagt, sollten erfahrene Anleger ihre Erfahrungen weitergeben. So haben sich die Märkte auch wieder erholt nach der Dotcom-Blase, nach der Finanzkrise oder nach der Corona-Pandemie. Vermögensverwalter zum Beispiel sind in der Regel erfahrene Anleger. Dementsprechend liegt ihr Kapitulationspunkt tiefer als der ihrer Kunden. Wenn nun die Börsen abstürzen, dann sollten gerade die Vermögensverwalter, symbolisch gesprochen, ihren Kunden die Hand halten und darauf hinweisen, dass es das schon immer gegeben hat. Denn einer der grössten Fehler ist, in der Krise zu verkaufen.

Und trotzdem kommt es immer wieder zu Panikverkäufen.

Die Gesamtheit der Investoren wird mit der Zeit nicht besser. Die jungen Investoren bekommen vielleicht schon bei 10 Prozent kalte Füsse, während die Alten, nehmen wir Warren Buffett, viel mehr aushalten. Ich glaube, das ist generell so, wenn die Leute älter werden, wenn sie den Mechanismus verstanden haben, dann werden sie unempfindlicher. Aber die Alten sterben irgendwann, und die Jungen rücken nach, sodass der Durchschnitt der Anlegerpopulation in etwa gleich bleibt.

Warum gewinnt in solchen Momenten das Emotionale über das Rationale?

Im Kern geht es um Verlust. Und jeder Mensch hat Angst vor dem Verlieren.

Inwieweit unterscheiden sich die Reaktionen der Anleger auf eher kurzfristige Ereignisse, wie die Zollpolitik im Vergleich zu langfristigen Entwicklungen, wie zum Beispiel die Arbeitsmarkt- oder Konjunkturentwicklung? 

Investoren verhalten sich wie Frösche im Wasser. Bei Schockereignissen wie Trumps sogenanntem «Liberation Day» reagieren die Anleger stark und springen aus dem Wasser. Und bei langfristigen Entwicklungen, nehmen wir die Umweltproblematik oder die steigende Verschuldung, reagieren die Anleger kaum und der Frosch bleibt im Wasser.

Zurzeit kursieren viele Tipps und Analysen, wie man sich als Anleger in dieser volatilen Marktphase verhalten soll. Wie sollen Anleger damit umgehen?

Generell gilt: Wer investiert, sollte seinen Anlagestil kennen, zum Beispiel Value, Growth, Quality, Momentum et cetera. In volatilen Märkten sollte man den Anlagestil, egal welchen man gewählt hat, durchziehen. Denn wenn es mal 6 Prozent nach oben und dann wieder 3 Prozent nach unten geht, ist das kein guter Zeitpunkt, um den Anlagestil zu wechseln. Erst wenn sich der Markt wieder beruhigt hat.

Das klingt machbar.

Aber die Menschen tun es nicht. Denn wer überdenkt seinen Anlagestil, wenn alles gut läuft? Auf die Idee, etwas zu ändern, kommt man erst, wenn es schlecht läuft. Und das ist der falsche Zeitpunkt, zumindest im Anlegeruniversum. Deshalb sollten Anlegerinnen und Anleger alle paar Jahre, Krise hin oder her, darüber nachdenken, ob ihr Anlagestil noch zu ihnen und ihrer Lebenssituation passt.

Was können Investoren sonst tun, um Fehlentscheide in unsicheren Zeiten zu vermeiden?

Der grösste Fehler ist, gar nicht erst zu investieren. Der zweitgrösste ist, in der Krise auszusteigen. Die Vermögensverwalter oder die Anleger selbst müssen es schaffen, irgendwie im Markt zu bleiben. Und das gelingt, wenn man die Risikobereitschaft der Anleger im Griff hat.

Wie wird die sprunghafte Zollpolitik das Anlegerverhalten beeinflussen?

Ich rechne mit einer Welle von Umschichtungen, jetzt, wo die Leute merken, dass Trump die Märkte durchschüttelt. Die Börse wird für viele Anleger unattraktiver, dann werden sie ihr Vermögen vielleicht verstärkt in andere Anlagemöglichkeiten wie Gold umschichten.

Dr. Thorsten Hens ist ein deutsch-schweizerischer Ökonom. Er ist Swiss Finance Institut Professor am Departement of Finance der Universität Zürich sowie als ausserordentlicher Professor für Finanzen an der Universität Luzern und der Norwegischen Handelshochschule in Bergen. Zudem ist er einer der Gründer der UZH-HSG-Spin Off Company Behavioral Finance Solutions, der Swiss Fintec Innovations Association und des UZH Blockchain Center. Hens studierte in Bonn und Paris und war zuvor Professor in Bielefeld und lehrte an der Stanford University. Seine Schwerpunkte sind Behavioral und Evolutionary Finance. In seiner Forschung nutzt Hens Psychologie und Biologie, um die Dynamik der Finanzmärkte zu erklären und ist Autor von mehreren Fachartikeln- und Büchern.

Monique Misteli
Monique MisteliMehr erfahren