cash.ch: Herr Gitzel, die Nachfrage nach sicheren Anlage-Häfen aufgrund des Nahost-Konflikts hat den Franken gegen den Euro auf ein Rekordhoch getrieben. Sehen Sie aktuell noch andere Gründe für die Frankenstärke?

Thomas Gitzel: Ganz grundsätzlich ist zu beobachten, dass die Devisenreserven der SNB seit etwas mehr als einem Jahr um 300 Milliarden Franken gefallen sind. Die SNB interveniert also an den Devisenmärkten zugunsten des Franken. Dies ist einer der Gründe, warum der Franken so stark ist, aber eben nur einer. Da in der Schweiz die Inflationsraten im Verhältnis zur Eurozone aber auch zu den USA weit weniger stiegen, hat sich die Kaufkraftparität zugunsten des Franken verschoben. Die Marktkräfte haben die eidgenössische Valuta also in die richtige Richtung verschoben. Die leidvollen internationalen Konflikte tun nun ihr übriges: Der Franken ist als sicherer Hafen gefragt.

Der starke Franken dient der Schweizerischen Nationalbank seit letztem Jahr als Mittel zur Inflationsbekämpfung. Ist ein Wert von unter 95 Rappen nicht zu viel des Guten für die SNB?

Das mag auf den ersten Blick so erscheinen. Unter Berücksichtigung der Inflationsdifferenzen zu den wichtigsten Handelspartnern ist der Franken selbst auf Niveaus von unter 95 aber keineswegs teuer bewertet. Wir sehen den fairen Wert derzeit bei rund 90 Rappen gegenüber dem Euro, was wiederum nicht heisst, dass diese Niveaus bereits morgen auf den Kurstafeln zu sehen sein wird. Es zeigt vielmehr, dass mit weiteren Aufwertungen auf mittlere Sicht gerechnet werden sollte.

Glauben Sie, dass die SNB nun langsam Fremdwährungen kauft, um eine noch deutlichere Franken-Aufwertung zu verhindern?

Die SNB baut ihre Devisenreserven derzeit ab, nicht auf. Es ist also nicht davon auszugehen, dass nun das Pendel plötzlich wieder in die andere Richtung schwingt. Es besteht auch kein Grund, den Franken mittels Fremdwährungskäufen zu schwächen. Die aktuelle Situation ist für die eidgenössischen Währungshüter sehr günstig.

Warum?

Die Schweizer Industrie kann aufgrund des starken Franken Waren im Ausland günstig einkaufen und damit ihre Wettbewerbsfähigkeit wahren. Da auf Sicht der kommenden Monate der Inflationsdruck in der Schweiz aufgrund eines höheren Mietzinses und höherer Stromrechnungen wieder etwas steigen wird, ist also eine Kompensation über einen günstigen ausländischen Einkauf durch die Unternehmen durchaus gewünscht. Ein starker Franken bedeutet deshalb nicht, dass die Inflationsraten Gefahr laufen, zu niedrig auszufallen. Eine starke eidgenössische Valuta bleibt vorerst ganz im Sinne der SNB.

Auch der Dollar, seinerseits selber eine Fluchtwährung, verliert gegen den Franken und ist zeitweise wieder weniger Wert als 89 Rappen. Anfang Monat waren es noch 92 Rappen. Müsste das die SNB nicht beunruhigen?

Nein. Es gilt das gleiche wie gegenüber dem Euro. Derzeit ist ein starker Franken im Sinne der SNB.

Vorausgesetzt, es kommt in Nahost zu einer wirklichen Eskalation. Bis auf welches Niveau könnte sich der Franken gegen den Euro aufwerten?

Um diese Frage zu beantworten, muss zunächst definiert werden, was Eskalation bedeutet.

Bitte.

Versteht man darunter einen Flächenbrand, in dessen Folge es zu einem Stellvertreterkrieg zwischen «Ost» und «West» kommen würde, könnte die Risikoaversion deutlich steigen. Dies hätte nämlich auch Implikationen für den Ukraine-Krieg, denn die USA, aber auch Europa wären mit zwei Kriegen konfrontiert. Wie stark der Franken in solch einem Falle als «sicherer Hafen» aufwertet, lässt sich nur schwer beantworten. Niveaus von unter 0,90 würden mich aber nicht verwundern.

Wie würde die SNB in einem solchen Szenario reagieren?

In diesem Falle würde die SNB als ersten Schritt von einem weiteren Abbau der Devisenreserven absehen und in einem weiteren entscheiden, ob sie tatsächlich auch wieder Fremdwährungen kauft.

Wird die Franken-Stärke den Dezember-Zinsentscheid der SNB beeinflussen?

Die September-Sitzung der SNB hat gezeigt, dass der Wille zu weiteren Zinsanhebungen ohnehin nicht besonders stark ausgeprägt ist. Ein starker Franken wäre letztlich nur eine Bestätigung, von einer weiteren geldpolitischen Straffung abzusehen.

Welche Oktober-Inflationszahlen erwarten Sie für die Schweiz?

Im Oktober wird die Inflationsrate weiter moderat steigen. Wir werden wohl knapp unter der 2-Prozent-Marke liegen.

Wegen der gestiegenen Renditen von Italiens Staatsanleihen brodelt es auch wieder im Euroraum. Offenbar hat die EZB zuletzt verstärkt italienische Anleihen gekauft. Wie beurteilen Sie die Lage?

Das Renditeniveau hat sich zuletzt generell nochmals nach oben verschoben. Richtig ist aber auch, dass die Bewegung in Italien stärker ausfiel als etwa bei den deutschen Bunds. Die Risikoaufschläge auf italienische Staatsanleihen sind also gestiegen. Besorgniserregend ist dies allerdings bislang nicht.

Weshalb?

Die Spreads sind im historischen Vergleich noch relativ niedrig und Italien hat sich in den vergangenen Jahren bevorzugt längerfristig verschuldet, so dass die vom italienischen Staat durchschnittlich zu bezahlenden Zinsen nur langsam ansteigen werden. Dass die EZB in solch einem Umfeld bei der Wiederanlage ihrer Anleihenbestände bevorzugt italienische Staatstitel kauft, kann nachvollzogen werden. Das ist gewissermassen "the first line of defense", also die erste Verteidigungslinie - oder besser die naheliegendste Vorsichtsmassnahme. Ich sehe aktuell die Situation noch recht entspannt.

Daniel Hügli
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