cash.ch: Frau Weisser, wie ist es um das Vorsorgesystem in der Schweiz bestellt?
Veronica Weisser: Grundsätzlich haben wir von der Struktur her mit den drei Säulen ein gutes System, das an sich die Grundzüge einer langfristig haltbaren Sache hat. Im internationalen Vergleich befinden wir uns aber im Mittelfeld, nicht besonders gut, nicht besonders schlecht. Wir haben einige Entwicklungen verpasst.
Was meinen Sie damit?
Jede Säule hat ihre Herausforderungen. In der ersten Säule haben wir uns Renten von Kindern versprochen, die wir nicht hatten. In der zweiten Säule zahlen wir uns Renten aus Kapital, das uns nicht gehört. Und in der dritten Säule sparen wir zu wenig, weil uns keiner zwingt. Diese Herausforderungen müssen wir mit Blick auf die Zukunft angehen.
Welches ist die wichtigste Säule in der Schweizer Vorsorge?
Ein Stuhl mit drei Beinen braucht alle drei Beine. Von der Grösse der ausbezahlten Beträge dominiert aber die zweite Säule. Die AHV hat wiederum eine ganz wichtige Rolle hinsichtlich der Grundsicherung. In der dritten Säule haben wir die meisten Freiräume als Individuen.
Politisch stehen immer wieder Bemühungen an, die erste Säule zu stärken, obwohl dort der Inflationsausgleich beispielsweise sehr gut funktioniert…
Genaugenommen steigen die AHV-Renten strukturell mehr über die lange Frist als die Inflation. Wir haben daher stetige Kaufkraftsteigerungen. Die Kaufkraft der Minimalrenten ist heute mehr als sechsmal höher als bei der AHV-Einführung 1948. Zudem zahlen wir durchschnittlich nicht mehr dreizehn, sondern 24 Jahre diese Renten aus. Wir haben eine starke Rentenausweitung erlebt, ohne dabei die Finanzierung dieser Renten anzupassen. Die bestehenden Versprechen müssen finanziert werden, bevor die Renten weiter ausgebaut werden.
Warum finden Reformen in der Schweiz trotz der absehbaren finanziellen Probleme keine Mehrheiten?
Die Lücke kann auf drei Arten gestopft werden. Man reduziert den Wohlstand der Rentner, indem man die Renten senkt. Dies wurde im Ausland häufig gemacht, in der Schweiz ist dies politisch wohl nicht machbar. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass man den Wohlstand der jungen Generation senkt. Dies haben wir bisher gemacht und hat wohl politisch angesichts der Wählerstruktur die grössten Chancen. Oder man verschiebt das Rentenalter. Dann kann man den Wohlstand aller Generationen erhalten. Ich denke, wir werden länger arbeiten. Wir sind aber vermutlich noch nicht an dem Punkt, wo es politische Mehrheiten für dieses Anliegen gibt.
Der finanzielle Druck muss noch grösser werden?
Nein, die Altersstruktur muss sich noch mehr verschieben. Bereits heute sind zwei Drittel der Personen, die abstimmen, über 50 Jahre alt. Wenn zwei Drittel über 60 Jahre alt sind, werden diese sehr wohl für ein höheres Rentenalter votieren. In zehn Jahren wird dies kein Problem sein.
Die Jungen sind die Leidtragenden…
Ja. Man muss aber auch sagen, dass die Jungen noch länger in Rente sein werden. Auch bei einem steigenden Rentenalter.
Das Rentenalter wird zukünftig höher sein. Wie sollen sich die heutigen 20-jährigen mit der Altersvorsorge beschäftigen?
Es gibt eine einfache Faustregel, die sollte jeder junge Mensch anwenden, wenn möglich. Denn damit ist man auf der sicheren Seite und kann sich recht gut entspannen. Ab dem ersten Lohn sollten 10 bis 15 Prozent des Bruttolohns monatlich breit in Aktien angelegt werden - in erster Linie mittels der dritten Säule. Damit kann man im Alter den Lebensstandard mit hoher Wahrscheinlichkeit halten.
Was gilt für ältere Personen?
Im mittleren Alter sollte man nochmals sicherstellen, dass man auf dem richtigen Weg ist. So sollten mehrere 3a-Konten vorhanden sein, bei denen man in Aktien investiert. Ab rund 50’000 Franken sind zusätzliche Konten sinnvoll, damit man diese später gestaffelt und steuerlich optimal beziehen kann. Auch sind Testament, Ehevertrag, Vorsorgeauftrag, Patientenverfügung oder Sorgerechtsverfügung ein wichtiger Teil der Vorsorge.
Was könnte passieren, wenn man das Thema Testament vernachlässigt?
Eine Witwe oder ein Witwer könnten in die Situation kommen, dass beispielsweise Immobilien verkauft werden müssen, um die Kinder auszuzahlen.
Haben Sie noch weitere Tipps?
Allgemein sind sicherlich Gesundheit und Weiterbildung sehr wichtig. Ohne diese wird man mit 60 oder 65 für den Arbeitsmarkt weniger attraktiv sein. Wenn man unfreiwillig früh in Rente gehen muss, kostet dies sehr viel Geld. Der letzte Tipp bezieht sich auf die Beziehung.
Wie meinen Sie das?
Für die allermeisten Leute lohnt es sich, eine halbe Stunde früher Feierabend zu machen und dafür einen Blumenstrauss für den Partner kaufen zu gehen. Denn Beziehungsprobleme kosten sehr viel Geld, besonders wenn noch Kinder involviert sind. Langfristige, positive Beziehungen tun der Gesundheit und den Finanzen gut.
Kinderbetreuung kann zum Nachteil werden, wenn man nicht erwerbstätig ist. Worauf soll Mann und Frau achten?
Die Fürsorgerolle wird in unserem Vorsorgesystem wenig reflektiert. Dies gilt insbesondere für die zweite und dritte Säule. Daher geht die Fürsorgerolle mit weniger Rente einher. Die Politik wird diese Problematik wohl nicht so schnell lösen. Daher müssen wir als Individuen auch eine gewisse Eigenverantwortung wahrnehmen.
Die Problematik trifft insbesondere unverheiratete Paare…
Wenn nicht beide Partner mindestens 70 Prozent arbeiten, sieht es für die Person, die weniger erwerbstätig ist, schlecht aus. Es wird oft beschrieben, wie man sich als Konkunbinatspaar absichern kann. Dies ist aber sehr teuer und wird deshalb meistens nicht ausreichend gemacht. Abgesehen der romantischen Vorstellungen ist die Heirat in der Schweiz daher immer noch die beste Lösung.
Kann man sich mit einer Heirat wirklich zurücklehnen?
Ein Ehemann oder eine Ehefrau ist keine Altersvorsorge. Mehr als 40 Prozent der Ehen scheitern. Daher müssen beide in der Lage sein, schlussendlich für sich selbst zu sorgen. Problematisch sind immer lange Pausen in der Erwerbstätigkeit, wenn man beim erneuten Einstieg nicht mehr das entsprechende Lohnniveau erreicht.
Schlussendlich muss sich aber jeder um die private Vorsorge kümmern, die immer wichtiger wird?
In 25 Jahren hatten wir nur eine grosse Reform der Altersvorsorge. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass alle Probleme politisch gelöst werden. Die Verantwortung liegt bei uns selbst. Daher muss jeder einzelne überlegen, welchen Lebensstandard er oder sie im Alter erreichen will und dementsprechend handeln.
Sie propagieren dabei das Aktiensparen. Was muss man dabei beachten?
Wenn die Aktien nicht volatil wären, würden sie auch nicht mehr rentieren als andere Investments. Daher ist es wichtig, sich beim Aktienkauf einen psychologischen Helm aufzusetzen, damit man in der Korrekturphase keine falschen Entscheidungen trifft, also nicht verkauft. Ein guter Anleger sieht eine Krise vielmehr als Chance und kauft nach.
Was empfehlen Sie weniger erfahrenen Anlegern?
Ein gestaffeltes Investieren. Man sollte monatlich automatisiert in ein diversifiziertes Aktienportfolio investieren.
Was bringen Aktien gegenüber einem Sparkonto?
Der Zinseszinseffekt bei den Aktien wird häufig unterschätzt. Wer 200 Franken im Monat ab Alter 20 in Aktien anlegt und dies während einer Dauer von 45 Jahren, hat schlussendlich ungefähr 100’000 Franken investiert. Bei einem Sparkonto mit Zinsen von 1 Prozent resultieren ungefähr 25’000 Franken Zinsen. Bei einem Aktieninvestment mit einer jährlichen Rendite von 5 Prozent, hat man mehr als 200’000 Franken Rendite. Der Finanzmarkt macht für einen die Altersvorsorge.
Sollte man daher auch in der Säule 3a ausschliesslich mit Aktien sparen?
Sofern ein Anlagehorizont von mindestens 10 Jahren gegeben ist, bis man das Geld nutzen möchte. Das heisst aber nicht, dass man mit 55 alle Aktien verkaufen muss. Denn das Geld in der Säule 3a ist ins besonders wichtig für die späteren Rentenjahre, weil die 2. Säule keine Inflationsanpassung hat.
Was halten Sie von Pensionskasseneinkäufen? Daraus resultieren ja auch steuerliche Vorteile.
Das dort eingezahlte Geld ist weggesperrt. Und wenn man in einer Pensionskasse mit Sanierungsbedarf landet, dann werden die Renditen auch für die Sanierung verwendet. Ab Alter 50 und wenn absehbar ist, dass man im Unternehmen bleibt, kann man bei einer gesunden Pensionskasse Einkäufe in die zweite Säule machen. Aber in jungen Jahren macht dies wegen der fehlenden Visibilität über die Qualität der zukünftigen Pensionskassen weniger Sinn.
Frühpensionierung sollte man hingegen bekanntlich meiden?
Die letzten 5 Jahre vor dem Pensionsalter, die man arbeitet, sind für ein Drittel der Rente von der Pensionskasse verantwortlich. Dies liegt am reduzierten Umwandlungssatz bei Frühpensionierung und der fehlenden Beiträge und Verzinsung. Bei drei Jahren sind es 20 bis 25 Prozent weniger in der zweiten Säule. Es macht mehr Sinn, schrittweise in Rente zu gehen. Das hat auch steuerliche Vorteile bei einem Bezug des Kapitals.
Dr. Veronica Weisser ist Ökonomin, Leiterin des UBS Vorsorge Innovation Hubs und Fellow des UBS Sustainability and Impact Institute. Zuvor leitete sie im Chief Investment Office der UBS die Schweizer makroökonomische und Sektorenanalyse sowie den Vorsorge Sektor «Retirement & Pension Solutions» und verantwortete dabei die Strategie der UBS Schweiz zu Vorsorge.
10 Kommentare
Besten Dank für diesen spannenden Beitrag
Immer 10 - 15 % des Einkommens in die 3. Säule einzuzahlen dürfte für das untere Einkommens-Segment kaum möglich sein, jene Personen, welche im Alter ohnehin schon minimale Renten erhalten.
5 % Aktien-Renditen zu erzielen sollte historisch und langfristig möglich sein. Warum schaffen dies unsere institutionellen PK nicht, welche mehrheitlich den Mindestzinssatz von neu 1.25% erreichen und dabei extrem hohe Kosten generieren? Hier sehe ich den leichtesten, wichtigsten, grössten und dringendsten Handlungsbedarf.
Früh-Pensionierungen sind für mittlere und hohe Einkommen schon möglich und o.k., wenn die Übergangsjahre aus Spargeldern finanziert werden.
Weil die PK nicht 100% in Aktien investieren.
Weil durch die zu hohen Umwandlungssätze von bestehenden und Neurentnern ein zu grosser Anteil am Gewinn den Rentnern zugewiesen werden muss und nicht den Aktiven.
In guten Jahren und bei soliden PK wird eine höhere Verzinsung gewährt.
Immer wieder wird behauptet Kinderbetreuung kann zum Nachteil werden, wenn man nicht arbeitet. Ich kann diese Aussage als Geschiedener nicht nachvollziehen. Das Splitting sorgt doch für den Ausgleich. Es ist eher so, dass früher bei einer Scheidung davon ausgegangen wurde, dass in fast allen Fällen die Frau eine Art Rente zugesprochen erhielt damit sie im Alter nicht im Nachteil ist. Dann kam das Splitting, somit hatten die Frauen oft mehr zur Verfügung als der Mann. Die Frauen werden immer noch zu oft als Opfer unserer Gesellschaft dargestellt.
Wenn ein Ehepartner während der Ehe für die Kinder zu Hause bleibt und auf Karriere verzichtet (Lohnentwicklung), dann kriegt er zwar was mit durch das Splitting, seine verpasste Lohnentwicklung hohlt das allerdings nicht wieder auf.
«Ein Ehemann oder eine Ehefrau ist keine Altersvorsorge». Ein hohles, auf halbem Weg stecken gebliebenes Schlagwort.
Die Ehe als solche bietet soziale und finanzielle Absicherung. Abgesehen von allen nicht materiellen Gründen.
Nur wenn sie hält! 40% halten nicht, sich fix darauf zu verlassen kann also böse enden.
naja vieles ist recht gut beschrieben, aber das mit den Aktien?!.... das könnte in der heutigen Zeit böse enden.... unsere Finanzsystem wird nicht sehr lange so wie wir es kennen, weiterlaufen... Sicherheit wird das Zauberwort sein: Liquide Mittel bei Banken mit Staatsgarantie parkieren, Wohneigentum ziemlich abzahlen, dass auch im Alter die Tragbarkeit immer funktioniert, allenfalls Edelmetall, allenfalls je nach Mittel Immo Renditeobjekte wenn man vieles auch selbst machen kann und will...aber wenn möglich maximal mit 40 % Belehnung, damit auch Bewertungsrücksetzer verkraftet werden können. Im schlimmsten Fall wird das Geldsystem wie wir es kennen abgelöst werden, dann werden ev. nur Sachwerte zählen. Ob dann die Aktien so noch funktionieren bin ich nicht so sicher, es wird vermutlich was anderes ähnliches geben mit einem anderne Wertesystem. Aber wohnen müssen die Menschen immer irgendwo und ein gut unterhaltene Immobilie wird daher immer einen Wert haben egal in welcher Währung man dies dann angeben will...
Bitte dran denken, dass Aktien auch Sachwerte sind und somit im Krisenfall inflationsgeschützt und teilweise werterhaltend.
Da haben Sie vermutlich schon recht sofern die Firma auch in der Rezession überlebt... Dann erweitert: die Frage ist bei einem Geldsystemwechsel wie das bewertet wird. Daher bleibe ich bei meinen Immobilien, da gewohnt immer werden muss, egal was für ein Wertesystem man dann hat... Aber ja vor Enteignung ist man auch nicht geschützt, aber das läuft ja heute indirekt schon mit den verschiedenen Steuern...
Wenn ich ETF kaufe (z.B. SPI Index = CH Wirtschaft) und die enthaltenen Aktione resp. Unternehmen nichts mehr Wert sind, dann geht vermutlich so ziemlich alles den Bach runter und auch mein Eigenheim nützt mir nicht mehr wahnsinnig viel.