«Weil es Frankreich ist»: Mit diesen Worten begründete der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im Jahr 2016 die Entscheidung Brüssels, beim EU-Gründungsmitglied in puncto Haushaltsregeln mal wieder ein Auge zuzudrücken. Doch mit der Nachsicht könnte es ein Ende haben, wenn aus den Neuwahlen in Frankreich am Sonntag eine europaskeptische, rechtsextreme Regierung hervorgeht.

Falls diese einen Konfrontationskurs mit Brüssel einschlägt, dürfte dies die gesamte Währungsunion erschüttern und dem Euro zusetzen, befürchten Experten. Laut Frankreichs Finanzminister Bruno Le Maire könnte das Land im Zuge der Neuwahlen sogar in eine Finanzkrise schlittern.

«Die Unsicherheit an den Finanzmärkten ist gestiegen, wie sich am Euro-Kurs und an den Risikoaufschlägen französischer Staatstitel ablesen lässt», erläutert Chefökonom Thomas Gitzel von der Liechtensteiner VP Bank. Die Risikoaufschläge (Spreads) französischer Staatstitel zu deutschen Bundesanleihen mit 10-jähriger Laufzeit seien nach der Ankündigung der Neuwahlen in der Spitze um 30 Basispunkte gestiegen.

«Die Spreads haben damit den höchsten Stand seit der europäischen Schuldenkrise im Jahr 2011 erreicht.» Der Renditeabstand zwischen den Bundesanleihen und den französischen Titeln war am Tag nach der überraschenden Nachricht auf rund 80 Basispunkte hochgeschnellt, aktuell steht er bei 71 Basispunkten.

Der rechtsgerichtete Rassemblement National (RN) um seine Galionsfigur Marine Le Pen hat zwar gelobt, sich an das im Stabilitäts- und Wachstumspakt festgelegte EU-Regelwerk halten zu wollen. Doch bleibt offen, ob die recht kostspieligen Ausgabenpläne zu finanzieren sind, ohne die Verschuldungsregeln der EU zu brechen. Es stellt sich auch die Frage, ob die Europäische Zentralbank (EZB) einspringen muss, wenn sich die Finanzmärkte gegen Frankreich wenden sollten. Dieses Szenario wäre aus Sicht von Berenberg-Bank-Chefvolkswirt Holger Schmieding heikel: «Wenn ein Land die Regeln einfach ignorieren und sich von der Notenbank helfen lassen kann, werden viele Zweifel am künftigen Wert und Zusammenhalt des Euro aufkommen.»

Die EZB hat ein bislang noch nie genutztes Anleihenkauf-Instrument mit dem Namen «Transmission Protection Instrument» - kurz «TPI» - in der Hinterhand, das zur Stützung einzelner in Bedrängnis geratener Länder eingesetzt werden kann. Damit könnte die Notenbank Frankreich durch den gezielten Kauf seiner Staatsanleihen stützen und ein Auseinanderlaufen der Finanzierungskosten der einzelnen Euro-Staaten verhindern. Die Anwendung des TPI setzt aber voraus, dass die betreffenden Länder die EU-Vorgaben zu den Staatshaushalten erfüllen.

EZB-Chefvolkswirt Philip Lane sagte gegenüber Reuters, die Bewegungen auf dem französischen Anleihemarkt erschienen nicht «ungeordnet». Dies bedeute, dass sie eine der Bedingungen für eine Intervention der Zentralbank nicht erfüllten. Doch kann sich das frühere EZB-Ratsmitglied Ewald Nowotny aus Österreich durchaus vorstellen, dass die EZB interveniert, wenn es wirklich brenzlig wird: «Es besteht natürlich die Möglichkeit, dass Frankfurt eingreift, wenn die Probleme mit Frankreich negative externe Auswirkungen auf andere Länder wie Italien hätten.»

Beim Defizitsünder Frankreich wird ein Auge zugedrückt

Der zentristischen Regierung in Paris ist es unter Präsident Emmanuel Macron bislang nicht gelungen, die ausufernde Staatsverschuldung einzudämmen. Daher strebt die EU-Kommission gegen Frankreich, aber auch gegen Italien und weitere Staaten ein Defizitverfahren an. An dessen Ende könnten theoretisch Geldbussen in Milliardenhöhe stehen - doch hat Brüssel es bislang nie so weit kommen lassen. «Dass Frankreich wieder ein EU-Strafverfahren wegen zu hoher Verschuldung droht, erinnert daran, dass das Land keinen finanziellen Spielraum mehr hat», bringt es Gilles Moëc, Chefökonom der AXA Group, auf den Punkt.

Tatsächlich drückt die EU schon sehr lange beim Defizitsünder Frankreich ein Auge zu: Seit Inkrafttreten der EU-Regeln vor 25 Jahren hat das Land nach den EU-Regeln zu grosse Haushaltslücken. Die Glaubwürdigkeit der französischen Finanzpolitik steht daher bereits vor einem möglichen Rechtsruck in Paris auf dem Spiel. Für 2023 wies die zweitgrösste Volkswirtschaft der Euro-Zone ein Defizit von 5,5 Prozent der Wirtschaftsleistung auf. Im laufenden Jahr wird ein Minus von 5,3 Prozent erwartet. Die EU-Schuldenregeln sehen aber nur eine Obergrenze von drei Prozent vor. Zwei Ratingagenturen haben die Kreditwürdigkeit Frankreichs bereits herabgestuft.

Laut Jeromin Zettelmeyer, Direktor der Denkfabrik Bruegel in Brüssel, lässt die bisherige Rhetorik des RN nicht darauf schliessen, dass die Partei eine grössere Konfrontation mit der Kommission sucht, die eine Finanzkrise auslösen könne. Zwar macht sich der RN nicht mehr für einen Austritt aus der Euro-Zone stark. Doch wenn die Rechten letztlich an die Schalthebel der Macht gelangten, könnten sie zum Beispiel bei der grünen Transformation und bei einer Reform der Kapitalmärkte in Europa auf der Bremse stehen, meint Zettelmeyer.

VP-Chefökonom Gitzel sieht dies ähnlich: «Insgesamt dürfte eine vom RN angeführte Regierung die EU nicht in ihren Grundfesten erschüttern, dennoch dürfte Brüssel zukünftig verstärkter Gegenwind entgegen blasen.»

(Reuters)