«Es ist kompliziert». So lautete vor einigen Jahren der Beziehungsstatus nicht weniger Facebook-Nutzer. Das gleiche kann über Rolls-Royce gesagt werden. Wenngleich die frühere Aussage der BBC über Rolls-Royce als «wahrscheinlich eine der bekanntesten Ikonen der Welt» Stabilität suggerieren würde, war nicht nur deren Geschichte, sondern auch die Aktienkursentwicklung der vergangenen 30 Jahre eine Achterbahnfahrt.
Mit der Ikone war das Auto gemeint. «Dieser» Rolls-Royce gehört jedoch seit den 1990er Jahren BMW und Volkswagen - die Wolfsburger übernahmen damals Rolls-Royce, aber nicht die Namensrechte. Deshalb produziert Volkswagen heute Bentley und nicht Rolls-Royce.
Die Namensrechte gehörten dem «anderen» Rolls-Royce - dem auch weiterhin weniger bekannten Triebwerkshersteller. BMW erwarb von diesem die Namensrechte für Autos.
Heute konzentriert sich Rolls-Royce nur noch auf die Luftfahrt- und Verteidigungsindustrie. Neben der Produktion von Triebwerken für die zivile und militärische Luftfahrt stellt das britische Unternehmen Motoren für die militärische Schifffahrt und Lösungen für die Energieversorgung oder -speicherung her.
Lange und volatile Reise ins Nirgendwo
Die Valoren von Rolls-Royce legten von Mitte der 1990er Jahre bis 2014 eine beachtliche Performance hin. Der Anstieg von etwa 63 Pence auf über 440 Pence entsprach einem Kursgewinn von knapp 700 Prozent und übertraf den britischen Leitindex FTSE 100 (90 Prozent) und sogar den US-Leitindex S&P 500 (210 Prozent) um Längen. Doch dann geriet das Unternehmen in fundamentale Schwierigkeiten.
Der Aktienkurs fiel, zunächst um knapp 60 Prozent, bis eine Kürzung der Dividenden um die Hälfte den Kurszerfall stoppte. Das Ausbleiben von zusätzlich negativen Schlagzeilen katapultiere die Titel im Monat nach der Dividendenankündigung um 36 Prozent in die Höhe. Bis ins Jahr 2018 avancierten die Valoren um weitere 50 Prozent, erreichten aber nie das Allzeithoch von 2013.
Danach erlebten die Aktien von Rolls-Royce eine zweite Verkaufswelle, die mit der Pandemie endete und dem Unternehmen fast das Genick brach. Die Rolls-Royce-Titel sanken auf unter 35 Pence - ein Verlust von 90 Prozent vom Mehrjahreshoch von 2018 und 93 Prozent vom damaligen Allzeithoch von 2013 von über 440 Pence. Der Kurs lag damit tiefer als während der 1990er Jahre.
Die Dividenden wurden gestrichen und das Management kündigte eine Turnaround-Strategie mit Fokus auf Kostenreduktionen, Sparprogramme und Personalreduktion an. Ziel war es, die widrigen Bedingungen gestärkt und profitabler zu verlassen. Besonders mit Blick auf die äusserst unsichere Zukunft der Luftfahrtindustrie kurz nach den Covid-Lockdowns, war dies zwar richtig, aber auch gewagt.
Gestärkt aus dem Überlebenskampf
Um eine Kapitalerhöhung ist das Unternehmen nicht herumgekommen. Die ausstehenden Aktien wurden im Jahr 2020 bei 32 Pence um knapp 40 Prozent erhöht. Die Bewertung kollabierte - das Verhältnis des Unternehmenswerts zu Ebitda sank von 9 auf 3,1. Doch das Unternehmen überlebte.
Der vor zwei Jahren angetretene Firmenchef Tufan Erginbilgic setzte mit einem neuen Turnaroundplan den Fokus auf Margenverbesserungen und Konzentration. Covid war überstanden, aber die Umsätze und Margen befanden sich weiterhin deutlich unter den Vor-Conona-Niveaus. Während Rolls-Royce Ebitda- und Reingewinn-Margen von 17 Prozent respektive 9 Prozent von 2011 bis 2015 erzielte, waren es nach der Pandemie noch 12 respektive 1 Prozent.
Dieses Ziel scheint dem CEO nun gelungen zu sein. Bereits im Geschäftsjahr 2023 erreichte Rolls-Royce erneut die Vor-Corona-Levels. Für die kommenden Jahre erwarten Analysten nun eine Gewinnsteigerung von jährlich 20 Prozent bei steigenden Reingewinnmargen auf über 10 Prozent.
Explosionsartige Bewertungsexpansion
Diese schlagartige Verbesserung der Fundamentaldaten spiegelt sich im Aktienkurs. Nachdem der Markt die Resultate dieser Massnahmen zwei Jahre lang mit Vorsicht abwartete, stiegen die Rolls-Royce-Valoren anschliessend ungebremst in 25 Monaten von etwa 70 Pence auf 550 Pence - ein Plus von 680 Prozent. Im gleichen Zeitraum stieg die Bewertung gemessen am Verhältnis des Unternehmenswerts zum vorwärtsgerichteten Ebitda von 6 auf über 14.
Der Aktienkurs von Rolls-Royce in Pence Sterling.
Die anfängliche Bewertungsexpansion aufgrund besserer Fundamentaldaten hat selbst Analysten überrascht. Während zum Zeitpunkt der tiefen Kurse weiterhin mit Unsicherheit über den Ausgang der Turnaround-Strategie gerechnet wurde, empfahlen nur zwei von 18 Analysten die Titel zum Kauf.
Auch 12 Monate nach der bereits eingeleiteten Rallye hinkten die Analysten der Kursentwicklung hinterher und adjustierten die Kursziele jeweils im Nachhinein. Als dann das Gros der Experten die Rolls-Royce-Titel zum Kauf empfahl und mit Kurszielerhöhungen den Kursavancen zuvorkommen versuchten, verlieh es den bis dahin weiterhin nicht überteuerten Aktien zusätzlichen Schub.
Mittlerweile hat sich die Euphorie der Analysten gelegt. Das durchschnittliche Kursziel liegt leicht unter dem jetzigen Kursniveau bei 535 Pence. war scheint die Bewertung auf den ersten Blick etwas teuer zu sein - das Verhältnis von Unternehmenswert zum Ebitda liegt im 20-jährigen Durchschnitt bei etwa der Hälfte. Vergleicht man hingegen Rolls-Royce mit den drei grössten Triebwerkskonkurrenten General Electric, Safran oder RTX liegt die Bewertung im Schnitt und sogar unterhalb dieser von GE (17,8). Dabei erwarten Unterenhmensanalysten bei allen drei Konkurrenten ein geringeres Wachstum und sie weisen eine niedrigere Profitabilität auf die Briten auf. Das macht die Titel von Rolls-Royce attraktiv.
Risiko und Ertrag von Restrukturierungskandidaten
Das Gros des mittelfristigen Aufwärtspotenzials scheint bei Rolls-Royce vorbei zu sein. Die Geschichte zeigt Investoren, welches Potenzial eine erfolgreiche Restrukturierung bei Deep-Value-Titeln bietet. Können in Schieflage geratene Unternehmen eine Neukapitalisierung verhindern und gleichzeitig mit einem fähigen Management sich gestärkt aus der misslichen Lage befreien, eröffnen sich Kurspotenziale, die sonst nur in Spekulationsblasen zu finden sind.
Für Investoren auf der Suche nach vergleichbaren Situationen dürfte Boeing oder Intel eine interessante Ausganglage sein. Besonders Boeing, das schon seit mehreren Jahren in einer Krise steckt und sich derzeit mit dem Verkauf von Geschäftsbereichen liquide zu halten versucht, werden die nächsten Jahre betreffend einer Rekapitalisierung entscheidend sein. Kann das Unternehmen dies verhindern und erweist sich das Management als kompetent, dürfte der Aktienkurs des Unternehmens in einem Duopol-Markt mit Airbus schnell wieder abheben.