cash.ch: Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine dauert an, trotz der Bemühungen um zumindest eine Feuerpause. Wie würden Sie in Bezug auf die Ukraine die Begriffe Waffenstillstand und Frieden definieren?
Claudia Major: Waffenstillstand heisst erst einmal nur, dass Kampfhandlungen aufhören. Wir reden momentan über einen sektoralen Waffenstillstand, also beschränkt auf einen ausgewählten Bereich und zwar Energieinfrastruktur und Schwarzes Meer. Die Ukraine hat einem vollumfänglichen Waffenstillstand für 30 Tage zugestimmt. Russland besteht auf einem sektoralen Waffenstillstand im Energiebereich und im Schwarzen Meer. Das sind die beiden Bereiche, von denen Russland profitieren würde. Dies deshalb, weil die Ukraine sehr effizient war, Energie und Infrastruktur in Russland zu zerstören, beispielsweise Raffinerien. Die Bringschuld liegt nun ganz eindeutig auf russischer Seite. Russland setzt seine Angriffe dennoch fort und hat weitere Bedingungen für einen Waffenstillstand genannt, so etwa ein Ende der militärischen Unterstützung für die Ukraine und ein Ende der Mobilmachung in der Ukraine, was alles auf eine einseitige Schwächung der Ukraine hinauslaufen würde. Es würde das Land letztlich zu einem leichteren Opfer für russische Angriffe machen. Wir haben von russischer Seite bislang keinerlei Konzessionen, während sich die Ukraine sich enorm bewegt hat.
Und die Definition von Frieden?
Das ist etwas ganz anderes. Frieden heisst, dass man die Konfliktursachen bearbeitet und im besten Fall überwindet. Gründe für einen Krieg, beispielsweise territoriale Ansprüche, sollen damit wegfallen. Davon sind wir in der Ukraine weit entfernt, wenn man sich die russischen Forderungen anschaut. Russland fordert zum Beispiel immer noch, dass die Ukraine die vier Regionen Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja komplett aufgibt. Die Konfliktursache, dass Russland die Souveränität der Ukraine ablehnt und sie kontrollieren möchte, hat sich nicht geändert. Deshalb ist es ein riesengrosser Unterschied, ob wir von Waffenstillstand reden oder von Frieden.
US-Präsident Donald Trump, der ja eine Beendigung des Krieges innert 24 Stunden versprochen hatte, zeigte sich kürzlich ungehalten über die fehlende Verhandlungsbereitschaft Russlands. Wie wird er reagieren, wenn Russland so weitermacht?
Wenn man sich die Entwicklungen seit der Amtseinführung Trumps am 20. Januar anschaut, dann muss man feststellen: Trump war bislang nur bereit, die Ukraine unter Druck zu setzen, nicht aber Russland. Trump hat zwischenzeitlich die militärische Unterstützung und Zusammenarbeit mit der Ukraine ausgesetzt und den ukrainischen Präsidenten öffentlich gedemütigt. Die Ukraine hat nachgegeben. Bislang war Trump nicht bereit, den gleichen Druck auf Russland auszuüben. Im Gegenteil, noch bevor die laufenden Gespräche begonnen hatten, hat Trump zentrale russische Bedingungen erfüllt. Etwa die, dass die Ukraine auf die NATO- Mitgliedschaft verzichten müsse. Bislang hat Trump direkt mit Russland verhandelt, über die Köpfe der Ukraine hinweg, als wäre das Land bereits kein souveräner Staat mehr. Es deutet derzeit also alles darauf hin, dass Trump nicht gewillt ist, politisch, wirtschaftlich, militärisch Druck auf Russland auszuüben. Im Gegenteil, es besteht auf Seiten der USA die Bereitschaft, die Beziehungen zu Russland generell zu normalisieren. Es könnte sein, dass Trump sich doch noch für mehr Druck entscheidet, schliesslich handelt er sehr disruptiv. Aber momentan sehe ich dafür keinerlei Anzeichen.
Das 'Appeasement' gegenüber Russland deutet darauf hin, dass Trump Putin an seine Seite bringen will, also weg aus der Allianz mit China. Wie realistisch ist ein solches Unterfangen?
Wenn man sich die russische Politik anschaut, dann sehen wir, dass das Land rhetorisch zwar auf die USA zugeht. Gleichzeitig fährt Russland seine Beziehungen zum Iran, zu Nordkorea und zu China nicht runter, im Gegenteil. Es gibt weitere Kooperationsgespräche zwischen Russland und diesen Staaten. Bislang geht die Rechnung Trumps nicht auf. China ermöglicht mit seiner Unterstützung Russland auch, den Krieg in der Ukraine weiterzuführen. Warum sollte Russland das aufgeben?
Der Krieg in der Ukraine wird sich also noch eine ganze Weile fortsetzen.
Ja, wir sehen in diesen Verhandlungen keinerlei Hinweise darauf, dass Russland verhandeln will, damit es eine Lösung gibt. Nach der rhetorischen Zusage für den sektoralen Waffenstillstand flog Russland weiterhin Luftangriffe. Russland greift weiter an. Alles deutet momentan darauf hin, dass Russland die Gespräche nutzt, um auf einem anderen Weg zu siegen. Moskau hat bislang die Lehre ziehen können, dass sich langes Durchhalten lohnt. Der Anreiz aus russischer Sicht, jetzt aufzuhören, ist nicht da. Russland macht genau das, was es machen muss, damit die USA gesichtswahrend im Spiel bleiben. Momentan scheint dies den USA zu reichen.
Die Annäherung zwischen den USA und Russland sowie eine mögliche Wiederaufnahme der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den Ländern: Werden die USA zur Sicherheitsbedrohung für Europa?
Wenn man sich die letzten Wochen seit der Amtseinführung von Trump noch mal anschaut, muss man zu der Schlussfolgerung kommen, dass die aktuelle Regierung der USA die Europäer punkto Verteidigung nicht nur als so genannte 'Freerider', also Schmarotzer ansehen, sondern auch als ideologische Gegner. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz unterstellte US-Vizepräsident Vance den Europäern ein falsches Demokratieverständnis. Und offensichtlich sind die US-Regierungsmitglieder auch bereit, bei innenpolitischen Debatten in Europa zu intervenieren. Ich erinnere an die Unterstützungs-Tweets für Marine Le Pen nach ihrer Verurteilung in Frankreich. Wir befinden uns in einer anderen Welt der transatlantischen Beziehung. Wenn man sich die zentralen Bereiche der transatlantischen Beziehungen wie Verteidigung, Demokratieverständnis, Russland-Politik oder Zölle anschaut, dann muss man zum Schluss kommen, dass die USA für die Europäer keine Allianzmacht mehr sein wollen, sondern eine Grossmacht. Sie interagieren mit Russland als Grossmacht, und die kleinen Europäer und die Ukraine sind Verfügungsmasse. Die USA stellen anscheinend auch einige demokratische Elemente in Frage und nehmen teils autokratische Züge an. Beispielsweise, wenn bestimmte Medien nicht mehr zugelassen werden, indem die Wissenschaftsfreiheit infrage gestellt wird, oder wenn Staatsangestellte nicht mehr wissen, ob die Verwaltungsregeln oder politischen Vorgaben gelten. Es ist offensichtlich: Wenn die USA die Beziehungen mit der laut NATO-Konzept grössten Bedrohung für die europäische Sicherheit normalisieren will, nämlich mit Russland, dann sind sie wohl auch keine Sicherheitsgarantie mehr. Die USA werden zunehmend zu einer Sicherheitsbedrohung für Europa. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die USA Russland erlauben, die Lehre zu lernen, dass sich ein Krieg sich lohnt. Für uns Europäer ist es eine massiv ungemütliche Position.
Es stellt sich unweigerlich die Frage nach der Zukunft der NATO. Wie sehen sie diese?
Die Europäer müssen davon ausgehen, dass sich die USA aus der Rolle der zentralen Sicherungsmacht in der europäischen Verteidigung zurückziehen werden. Das heisst nicht, dass sie aus der NATO austreten. Das müssen sie nicht. Sie können die NATO auch schwächen, indem sie einfach ihre traditionelle Rolle nicht mehr spielen und keine politische Führung mehr zeigen, keine Kompromisse mehr schmieden oder keinen Streit mehr schlichten. Es sind die Amerikaner, die bislang die zentralen Ermöglicher waren punkto Flug- und Raketenabwehr, Cyberabwehr, elektronischer Kriegsführung und weitreichender Präzisionswaffen. Von all dem haben die Europäer entweder zu wenig oder sie haben es gar nicht. Die Amerikaner sind dazu, nebst politischer Führung und konventioneller Masse und Schlüsselfähigkeiten der NATO-Staat, der die zentralen Elemente für die nukleare Abschreckung stellt. Das können die Franzosen und die Briten nicht so einfach ausgleichen. Sollten sich die Amerikaner entscheiden, all ihre Beiträge zu reduzieren, dann müssten sich die Europäer fundamental neu aufstellen.
Wie?
Die Europäer müssten nicht nur diese entstandenen Lücken schliessen, also Ausrüstung kaufen und Truppen aufstellen. Sie müssten sich vor allen Dingen überlegen, wer die politische Führung übernimmt, wer die Ziele definiert, wer, salopp gesagt, den Laden zusammenhält. Kurz: Man muss sich überlegen, wie eine genuine europäische Verteidigung aussieht.
Man geht davon aus, dass Russland in etwa fünf Jahren bereit wäre, ein NATO-Land anzugreifen. Reicht das einer wie auch immer aufgestellten europäischen Armee, sich bis dann militärisch vorzubereiten und aufzurüsten?
Wir haben keine europäische Armee, sondern NATO-Streitkräfte, die interagieren. Im Endeffekt sind es immer noch die Nationalstaaten, die entscheiden, ob sie ihre Truppen irgendwo hinschicken. Man kann sich ganz viele verschiedene Szenarien vorstellen. Ich halte ein Szenario, in dem es eine Panzerarmee gibt, welche über die Grenze geht wie in der Ukraine, für unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher sind Grau- Szenarien, wo nicht ganz klar ist, was eigentlich passiert oder wo es zum Beispiel begrenzte Landgewinne gibt, und die Reaktion nicht so eindeutig ist. Russland ginge es dabei darum, Europa zu spalten, vorzuführen, dass es nicht handlungsfähig ist - und so letztlich zu zerstören. Die Aufgabe für uns Europäer ist es doch, Russland durch einen starken Aufbau unserer eigenen Verteidigungsfähigkeiten zu signalisieren, dass sich jegliche Art von Angriffen nicht lohnen. Das ist die Idee von Abschreckung: Dass die Kosten für einen Angriff höher wären als der Gewinn, den man sich erhofft. Wenn Abschreckung funktioniert, ist es eine Kriegsverhinderungsstrategie.
Die Schweiz hat jahrzehntelang vom nuklearen Schutzschirm der USA profitiert und hatte mit 700’000 Milizsoldaten noch Anfang der 90er-Jahre eine der grössten Armeen. Heute ist es ein Bruchteil davon. Wie beurteilen Sie die Sicherheitslage der Schweiz?
Die Schweiz hat den grossen Vorteil, dass sie sich in der Mitte von Europa befindet und damit vom Schutz durch die NATO-Staaten profitiert. Aus meiner Sicht scheint es im Interesse der Schweiz zu sein, dass es eine respektierte Weltordnung gibt, dass man sich weltweit an die Regeln hält und dass Europa sicher und stabil ist. Europa profitiert vom internationalen Austausch, von Finanz-, Personal- und Warenströmen. Unser Wohlstandsmodell basiert darauf, dass alle diese Austausche reibungslos funktionieren. Wenn Staaten lernen, dass das Recht des Stärkeren gilt, dass sie Grenzen verschieben können, dass sie unter einem nuklearen Schirm konventionelle Eroberungskriege und erfolgreich führen können sind, funktioniert unser Wohlstand und unser Stabilitäts- und Sicherheits- und Freiheitsmodell nicht mehr. Alle Europäer müssen daher überlegen, was wir bereit sind zu investieren, damit unsere Freiheit, unser Wohlstand, unsere Sicherheit in Europa weiter fortbestehen. Solche Fragen betreffen auch die Schweiz.
Noch zu Asien: Dort scheint die Sicherheitspolitik der USA ebenfalls nebulös geworden zu sein. Welche Interessen haben die USA in Asien, auch bezüglich Taiwan?
Die Frage ist, ob die USA bereit sind, die Schutzzusage für Taiwan einzuhalten. Es ist noch nicht ganz klar, welche Haltung die US-Regierung einnimmt. Vor kurzen hat Verteidigungsminister Hegseth ein Strategiepapier, die sogenannte 'Interim National Defense Strategic Guidance' veröffentlicht, in dem eine ganz klare Priorisierung auf Taiwan und den Raum Indo-Pazifik formuliert wird. Was auch heisst, dass Europa als nebensächlich beurteilt wird. Ob die anderen Akteure in der US-Regierung eine solche langfristige Positionierung teilen und diese dann auch umsetzen, ist schwer abzuschätzen.
Claudia Major ist seit März 2025 als Senior Vice President for Transatlantic Security Mitglied des Executive Teams des unabhängigen US Think Tanks 'The German Marshall Fund of the United States'. Der Fokus ihrer Forschungen liegen auf der NATO, der europäischen Sicherheit und den transatlantischen Beziehungen. Zuvor hat Major die Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin geleitet und war unter anderem am 'Center for Security Studies' an der ETH Zürich tätig. Major ist Mitglied in verschiedenen Gremien, wie dem Beirat Innere Führung des deutschen Verteidigungsministeriums. Sie hat in Berlin und Paris Politikwissenschaften studiert und an der Universität Birmingham zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik promoviert. Claudia Major wurde zum Ritter des französischen Verdienstordens ernannt und ist Träger des estnischen Verdienstordens.
4 Kommentare
Nicht die USA sind eine Bedrohung sondern die EU ist eine Bedrohung mit ihrer Bürokratie Regelungen und sollte sich komplett erneuern.
Klar viel besser die USA. Ein grosser Teil der Bevölkerung lebt auf der Strasse, hat keine Krankenversicherung und die Reichen fahren mit der Stretchlimousine um die, die den Mülleimer durchsuchen. Trump als Vorbild für die Welt (Ironie aus).
Putin verlangt nur, dass die Ukraine weder der Nato noch der EU beitritt. Zudem muss die Nato ihre Truppen und militärischen Gerätschaften an der Grenze zu Russland und in der Ukraine abziehen. Mit Waffenlieferungen von Seiten der EU erreicht man sicher keinen Frieden. Dies ist ein Krieg Nato- Russland auf ukrainischen Territorium (sog.kalter Krieg) . Es ist an der Zeit, dass dieser Krieg endlich aufhört.
Für die geossen pharma unternehmen ist die USA keine bedrohung, sie investieren im grossen stil in den USA.