cash.ch: Frau Hockenjos, weltweit eilen die globalen Börsen von einem Rekord zum nächsten. Droht der Markt derzeit heisszulaufen?

Fabienne Hockenjos: Der Markt hat mittlerweile sicher eine sportliche Bewertung erreicht. Dennoch befinden wir uns nicht einer Situation, die mit der Tech-Blase von 2000 vergleichbar ist. Die grossen Technologie-Titel, die in den USA den Gesamtmarkt im vergangenen Jahr zu neuen Rekorden geführt haben, legen eine hohe Ertragskraft an den Tag. Das darf man nicht vergessen. Die Apples dieser Welt haben einfach eine überdurchschnittliche Gewinnentwicklung zu erwarten. 

Die hohe Bewertung ist also kein Grund zur Sorge? 

Auf diesen Bewertungsniveaus sind Rückschläge nicht auszuschliessen. Der Markt verlässt sich stark auf die Stimuli von Notenbanken und Regierungen. Wenn dieser Stützpfeiler mal bröckelt oder sich das Zinsumfeld schneller ändert als erwartet, dann kann es durchaus Rückschläge geben. Dennoch ist die Alternativlosigkeit einfach ein starkes Argument für Aktien. 

Das Kürzel TINA, ws für 'There is no Alternative' steht, ist allgegenwärtig in der Diskussion. Man erhält den Eindruck, für Aktien kann es nur nach oben gehen. 

Die Alternativlosigkeit lässt das Risiko für Rückschläge nicht verschwinden, im Gegenteil. Doch es vergrössert das Fangnetz. 'Buy the dip' hat in den letzten Jahren ziemlich gut funktioniert. 

Sehen wir bald wieder einen Zinsanstieg? 

In den USA könnten wir durchaus weiter steigende Zinsen sehen. Durch die massiven Stimuli der Regierung wird die US-Notenbank Fed möglicherweise früher an der Zinsschraube drehen müssen, als es die eigenen Mitglieder derzeit noch erwarten. Die USA sind das einzige Land, das im nächsten Jahr den konjunkturellen Corona-Gap mehr als wettgemacht haben wird. In Europa und in der Schweiz wird es noch extrem lange dauern, bis wir positive Leitzinsen sehen werden. Die USA nimmt hier sicher die Vorreiterrolle ein bei einer Rückkehr zur geldpolitischen Normalisierung. 

Diese Aktien profitieren vom starken Trend zu Infrastruktur-Investitionen

Der US-Markt ist seinen europäischen Pendants während der Pandemie lange davongelaufen. Kann Europa nun endlich mal aufholen?

Ich hoffe es (lacht). Nein, die Situation ist momentan extrem schwierig. Wir haben beide Märkte neutral eingestuft. In den USA haben wir tatsächlich sehr hohe Bewertungen, weil sehr viel Positives bereits eingepreist ist. Dennoch sprechen die Konjunktur-Programme von Präsident Joe Biden und die wirtschaftliche Erholung weiterhin für den US-Markt. Die Qualitätsprämien, die man derzeit auf US-Aktien zahlt, sind also durchaus gerechtfertigt. 

Und Europa? 

Hier ist die Argumentationskette genau umgekehrt. Europa hätte eigentlich viel Aufholpotenzial, doch konjunkturell macht sich eine Kluft auf zwischen Europa und den USA auf. Die EU-Staaten gehen weniger beherzt vor bei den Interventionen, was man bei den Volumina der Stützungsprogramme sieht. Hinzu kommt, dass Europa mit dem Impffortschritt den Vereinigten Staaten deutlich hinterherhinkt. Derzeit bietet es sich an, sowohl in den USA als auch in Europa die Wetten sektoriell zu platzieren. 

Zuletzt hat die Rally von Zyklikern, also konjunktursensitiven Aktien, an Schwung verloren. Wachstumsaktien, wie etwa die grossen Technologie-Werte, kommen wieder zurück. Wie verhält man sich da als Anleger?

Wir gehen davon aus, dass die zyklische Rally noch nicht vorüber ist. Die Weltwirtschaft wird in diesem Jahr einen Wachstumsboom erleben, zudem wird sich das US-Stimulus-Paket auch auf andere Länder auswirken. Entsprechend haben wir einen Aufschwungs-Case, der weiter anhält. Eigentlich wurde er sogar erst angestossen. Daher haben wir uns verstärkt in zyklischen Aktien positioniert. Wachstums-Titel haben durch die aufkommende Zins-Thematik einen Rückschlag erlitten. Die latente Gefahr von weiter steigenden Bond-Renditen dürfte hier weiter ein Risiko darstellen. 

Zykliker-Rally: Ist der «Reflation Trade» nun gelaufen?

Haben Wachstumsaktien die steigenden Bond-Renditen nicht langsam verdaut? Zumindest jene Unternehmen, die tatsächlich Geld verdienen, haben sich an der Börse wieder gut erholt. Zu nennen wären hier zum Beispiel die grossen US-Tech-Firmen. 

Absolut. Wichtig ist die Unterscheidung zwischen den Wachstums-Titeln, die das Umsatzwachstum auch in steigende Gewinne umlegen könen und jenen Titeln, die einfach zu heiss gelaufen sind. Tesla ist ein Beispiel, wo ich vorsichtig wäre. Wenn wir in die Schweiz schauen, haben wir Logitech noch immer als Kaufempfehlung, obwohl die Aktie 2020 bereits sehr gut gelaufen ist. Wir sind sehr zuversichtlich, dass bei Logitech die erwarteten Wachstumssprünge auch kommen werden. Die vielen US-'Techies', die mit den Gewinnen massiv hinterherhinken, dürften bei weiter steigenden Renditen erneut ausgebremst werden. 

Schreckgespenst Anleiherenditen: Das gilt jetzt für Schweizer Aktien

Wie sind in diesem Umfeld eigentlich defensiven Titel wie Versorger oder Konsumgüterkonzerne zu bewerten? Die hinken dem Markt derzeit ja auch hinterher. 

Die Rotation weg von defensiven Titeln wird noch weiter anhalten. Trotzdem macht solch eine Position im Portfolio aus Gründen der Diversifikation durchaus Sinn.

Der Swiss Market Index (SMI) hinkt seit der Pandemie sowohl den US-Märkten als auch dem Eurostoxx 50 hinterher. Auch der deutsche Leitindex DAX rennt kurstechnisch davon. Bleibt das so? 

Die defensive Ausrichtung des SMI erweist sich in dieser konjunkturellen 'Rebound-Situation' natürlich als Bremsklotz. Der Dax als hochzyklischer Index hatte hier zuletzt bessere Karten. Die Schweizer Schwergewichte Roche, Novartis und Nestlé waren dafür im vergangenen Jahr eine extreme Stütze. Insgesamt glauben wir an die Qualität des Schweizer Aktienmarkts mit seinen attraktiven Dividendenrenditen. Trotzdem haben wir den Schweizer Markt in diesem Jahr auf neutral heruntergestuft.

Warum?

Ganz einfach, weil wir derzeit in anderen Märkten insgesamt bessere Kursentwicklungen erwarten. 

Kursentwicklung SMI (blau), DAX (gelb), Dow Jones (grün), Nasdaq 100 (orange) in den letzten zwölf Monaten, Quelle: Google Finance

Gibt es trotzdem Schweizer Aktien, bei denen sie zuletzt hinzugekauft haben? 

Wir sind auch in der Schweiz schon länger zyklischer gegangen. Vor allem gegenüber dem Industrie-Sektor gegenüber sind wir sehr positiv eingestellt. Hier haben wir kürzlich etwa Sika und Georg Fischer hinzugekauft. Verkauft haben wir hingegen im Bereich Basiskonsumgüter, genauer gesagt bei Nestlé

Sie hatten bereits den Schweizer Wachstumswert Logitech angesprochen. Was spricht für die Aktie? 

Der Investment-Case ist hier langfristig weiter intakt. Die Effekte der Pandemie werden noch länger ihre Wirkung haben. Logitech geht voll auf den Megatrend Digitalisierungen, Videokonferenz-Material etc. Eine hohe Bewertung ist hier gerechtfertigt. Rückschläge erachte ich als Einstiegsgelegenheit. 

Kommen wir zu einem eher schwierigen Thema, dem Banken-Sektor. 

Hier habe ich eine relativ klare Meinung. 

Und zwar? 

Bei Banken und Finanz-Titeln als solches präferiere ich die sogenannten Alternativen. Ich bin da eher bei Werten wie Partners Group. Hier bin ich sehr stark davon überzeugt, dass das Geschäftsmodell vom aktuellen Umfeld sehr profitieren wird. Oder auch Cembra sehe ich sehr positiv.

Was spricht für die Cembra-Aktie?

Das Unternehmen hat in den vergangenen Krisen bewiesen, dass man mit den vergebenen Krediten auch in einem konjunkturell schwierigen Umfeld sehr gut dasteht. Es zeigte sich, dass Cembra bei den Konsumkrediten gar nicht so verletzbar ist, wie befürchtet. In anderen Ländern haben Konsumkredit-Unternehmen historisch viel höhere Ausfälle. Zudem hat Cembra im Kreditkartengeschäft ein sehr positives Momentum. Hier sehen wir noch weiteres Wachstum und Kurspotenzial. 

Ist Cembra eine gute Aktie, um von der wirtschaftlichen Erholung zu profitieren? Bald dürfte ja wieder mehr bezahlt werden. 

Das dürfte der Fall sein, vor allem im Kreditkartengeschäft. Auch die Autoverkaufs-Zahlen entwickeln sich extrem positiv. 

Was halten Sie von den Versicherungen? 

Das ist unsere zweite Priorität bei Finanz-Aktien. Swiss Life und Zürich sind hier interessante Investment-Opportunitäten.

Und die Grossbanken?

Bei den Universalbanken gibt es natürlich sehr viel Presse derzeit, insbesondere bei der Credit Suisse. Wir sind bei klassischen Grossbanken schon lange untergewichtet. Der Margendruck bei der Ertragsentwicklung wird weiterhin bestehen bleiben. Auch wenn die Zinskurve in den USA steiler wird, werden die Schweizer Grossbanken CS und UBS weiterhin unter dem Tiefzinsumfeld leiden. 

Kommentar: Die Credit Suisse gleicht einer Hydra

Sie müssen wählen zwischen UBS und Credit Suisse. Welche Aktie kaufen Sie? 

In diesem Fall würde ich die UBS der CS vorziehen. Die jüngsten Fälle haben es gezeigt: Die UBS hat nach der Finanzkrise mit einer stärkeren Konsequenz aufgeräumt. Bei der CS tritt doch immer wieder dasselbe Muster an Fällen auf und man fragt sich, was da noch kommen kann.

Lonza war im Jahr 2020 so etwas wie die 'Kursrakete' des Schweizer Aktienmarkts. Doch seit dem Spätsommer hat sich bei der Aktie nicht mehr viel getan. Geht es hier bald wieder nach oben? 

Meine Meinung zu Lonza ist sehr positiv. Die Kursentwicklung 2020 war sehr erfreulich, doch das Ende der Fahnenstange dürfte noch nicht erreicht sein. Das Unternehmen profitiert natürlich als Produktionspartner von Corona-Impfstoffhersteller Moderna. Doch auch der Verkauf der Spezial-Chemie-Sparte für einen attraktiven Verkaufspreis ist ein guter Schritt vorwärts. Die Fokussierung auf die Rolle als Produzent für Pharma- und Biotech-Unternehmen ist strategisch sinnvoll. Auch hier schlummert noch weiteres Aufwärtspotenzial. 

Stock Alert: Wann geht es bei der SMI-Star-Aktie wieder bergauf?

Sie empfehlen ebenfalls die Titel von LafargeHolcim. Die Aktie des Baustoffproduzenten wird seit einigen Jahren von zahlreichen Analysten empfohlen. So richtig folgen wollte Kurs den Empfehlungen lange Zeit nicht. Jetzt scheint endlich Schwung in die Aktie zu kommen. 

Absolut. Auch wir waren bereits lange vor der jetzigen Rally deutlich positiv gestimmt. Wir erwarten hier langfristig eine deutliche Wertsteigerung. Erstens ist der neue CEO Jan Jenisch ein überzeugender Treiber von Effizienzsteigerungen. Die Neuausrichtung schreitet gut voran -  entsprechend schlummert grosses Margenpotenzial in dem Konstrukt LafargeHolcim. Zweitens werden die Nachrichten über wirtschaftliche Stützungsprogramme wie in den USA den Auftrieb noch längerfristig treiben. Die Nachfragedynamik dürfte durch die Implementierung des Infrastrukturprogramms noch einmal zunehmen. 

Welche anderen Schweizer Titel sind noch einen Blick wert für Anleger? 

Wir sind noch immer sehr positiv gestimmt bei Temenos. Zudem wurden wir am Donnerstag von einem unserer grössten Calls, ABB, in unserer positiven Meinung bestätigt. ABB wird weiterhin stark von den neuen Megatrends Elektrifizierung und Industrie 4.0 profitieren. Zudem wird sich der Umbau des Konzerns positiv auf die Margen auswirken.

Fabienne Hockenjos ist seit Juni 2020 Anlagechefin bei der Basellandschaftlichen Kantonalbank (BLKB). Davor war sie im Unternehmen unter anderem als Head Investment Research tätig. Zu ihren früheren Stationen zählt die Notenstein La Roche Privatbank sowie der Versicherungskonzern Baloise