Bei der Staatsanwaltschaft München läuft die Suche nach den Schuldigen an der Pleite des Zahlungsanbieters, der an der Börse einst mehr wert war als die Deutsche Bank. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss soll Versäumnisse von Aufsichtsbehörden und der Regierung aufklären. Nach fast 200 Stunden Befragungen von Zeugen rückt das Bundesfinanzministerium und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz in den Fokus. Auch der Wirtschaftsprüfungsfirma Ernst & Young (EY) werden schwere Versäumnisse vorgeworfen.
Am Freitag sollen Vertreter von EY vor dem U-Ausschuss in Berlin aussagen, unter anderem der abgesetzte Deutschlandchef Hubert Barth. Vom 20. bis zum 23. April gipfelt der Ausschuss in der Befragung von Kanzlerin Angela Merkel (CDU), Finanzminister Olaf Scholz und seinem Staatssekretär Jörg Kukies sowie Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) und Justizministerin Christine Lambrecht (SPD).
DIE ROLLE DES BUNDESFINANZMINISTERIUMS
Das Bundesfinanzministerium hatte eine staatliche Rettung von Wirecard in Betracht gezogen, nachdem Luftbuchungen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro bekanntgeworden waren, wie Reuters vorliegende Dokumente zeigen. Unter anderem ging es dabei um einen Kredit oder eine Bürgschaft der Staatsbank KfW. Wenige Stunden nach der folgenschweren Pressemitteilung am 22. Juni nachts um 02:48 Uhr, in der Wirecard das Fehlen des Geldes einräumte, verschickte Kukies ein neunseitiges Dokument an Scholz, in dem Argumente für mögliche Staatshilfen dargelegt wurden. Ein "Bank Run" könne Wirecard in Liquiditätsprobleme bringen. Das Unternehmen sei zudem ein wichtiger Anbieter für Zahlungsdienstleistungen, unter anderem für den Discounter Aldi.
Weiter heisst es in dem Dokument an "M" - das Kürzel für Minister Scholz -, es sei nicht damit zu rechnen, dass die Banken Wirecard "über die Klinge springen lassen" würden. "Aufgrund der Vielzahl der beteiligten Kreditinstitute und der Kurzfristigkeit der möglichen Kündigungen wird das Kreditrisiko als begrenzt eingeschätzt." Wirecard hatte bei mehreren Banken Kreditlinien über insgesamt rund zwei Milliarden Euro. Die Überlegungen für Staatshilfen wurden in den folgenden Tagen ad acta gelegt. Auch weil es Fragen bezüglich der Nachhaltigkeit des Geschäftsmodells von Wirecard gegeben habe, wie es in den Dokumenten heisst. Am 25. Juni meldete Wirecard Insolvenz an.
Die Opposition stört sich auch daran, dass Kukies den Kontakt zu Ex-Wirecard-Chef Markus Braun gepflegt hat, der seit dem Zusammenbruch der Firma in Untersuchungshaft sitzt. Durch den U-Ausschuss will die Opposition auch klären, inwieweit die Regierung Lobby für Wirecard etwa in China betrieben hat. Das Bundesfinanzministerium lehnt einen Kommentar ab. In früheren Aussagen des Ministeriums hiess es, Wirecard sei nicht bevorzugt behandelt worden.
DIE ROLLE DER WIRTSCHAFTSPRÜFER
EY ist vor allem für die SPD der Hauptschuldige ausserhalb des Wirecard-Managements, weil sie damit ihren Kanzlerkandidaten aus der Schusslinie ziehen will. In einer Zwischenbilanz zum U-Ausschuss der SPD heisst es: "Dem Ausschuss stehen Unterlagen zur Verfügung, die darauf hindeuten, dass EY bereits Anfang 2019 erhebliche Zweifel an den Bilanzen Wirecards hatte, diese jedoch trotzdem uneingeschränkt testierte. Der Betrug bei Wirecard wäre jedenfalls durch EY nicht ans Licht gekommen."
Die EY-Konkurrentin KPMG erhob bei einer Sonderprüfung im Frühjahr 2020 massive Zweifel am Geschäftsmodell von Wirecard und an der Echtheit von Umsätzen. EY verweigerte dem Konzern daraufhin das Testat für die Bilanz 2019. EY habe bereits 2017 die Chance gehabt, den mutmasslichen Betrug aufzuklären, habe aber keine angemessene Prüfung der Vorwürfe durchgeführt, kritisiert die SPD. "Insgesamt zeigt sich, dass EY die für einen Wirtschaftsprüfer nötige kritische Grundhaltung fehlte."
EY wehrt sich gegen die Vorwürfe. Das "kriminelle Netz" bei Wirecard sei darauf ausgelegt gewesen, die Akteure zu täuschen. Belege wie Bankbestätigungen seien mit grossem Aufwand gefälscht worden. EY-Deutschlandchef Barth trat vor wenigen Wochen zurück und kümmert sich künftig um andere Themen innerhalb von EY.
DIE ROLLE DER FINANZAUFSICHT BAFIN
Die deutsche Finanzaufsicht BaFin ist vor allem wegen des Leerverkaufsverbots für Wirecard in die Kritik geraten. Sie hatte im Februar 2019 für zwei Monate Wetten auf Kursverluste der Wirecard-Aktien untersagt - ein einmaliger Vorgang. Der Behörde wird vorgeworfen, Wirecard damit zum Opfer gemacht und Investoren geschädigt zu haben. Der Grünen-Abgeordnete Danyal Bayaz kritisiert etwa, dass Scholz näher hätte hinsehen und eingreifen sollen.
Die BaFin stellte ausserdem eine Strafanzeige gegen den "Financial Times"-Journalisten Dan McCrum, der jahrelang über Unregelmässigkeiten in den Bilanzen von Wirecard berichtet hat. Die BaFin verdächtigte McCrum, mit Leerverkäufern gemeinsame Sache zu machen. Im September 2020 wurden die Ermittlungen gegen den Journalisten eingestellt. Die Staatsanwaltschaft fand keine Belege für die Vorwürfe der BaFin.
Monatelang hatte Scholz BaFin-Chef Felix Hufeld geschützt. Im Januar entliess er ihn aber dann doch. Zu seiner Nachfolge ist noch nichts bekannt.
DIE ROLLE DES WIRECARD-MANAGEMENTS
Der langjährige Chef und Grossaktionär Markus Braun stellte sich im Juni der Polizei und sitzt in Untersuchungshaft im Gefängnis Gablingen im Landkreis Augsburg. Die Ermittler werfen ihm unter anderem gewerbsmässigen Bandenbetrug, Bilanzfälschung und Geldwäsche vor. Sein Kollege Jan Marsalek, der unter anderem für das Asiengeschäft zuständig war, ist seither auf der Flucht. Auch andere Manager sind angeklagt und sitzen zum Teil in Untersuchungshaft.
(Reuters)