Die riesige Produktionshalle in Düsseldorf flackerte letzten September im Licht von Fackeln und Bengalos, als nach dem letzten Akt für das Industriedenkmal der Vorhang fiel. Viele der 1600 Menschen, die ihren Arbeitsplatz verloren, schauten mit versteinerter Miene zu, als das glühende Metall des letzten Stahlrohrs der früheren Mannesmannröhren-Werke im Walzwerk zu einem perfekten Zylinder geglättet wurde.

Die Zeremonie beendete die 124-jährige Geschichte der Fabrik im Stadtteil Rath, die zuletzt der französischen Vallourec gehörte. In der Blütezeit der deutschen Industrialisierung errichtet, überstand sie zwei Weltkriege und mehrere Eigentümerwechsel. Doch die Nachwirkungen der Energiekrise waren ihr Ende.

Im vergangenen Jahr gab es zahlreiche solcher Schlussakte, die die schmerzliche Realität unterstreichen, mit der Deutschland konfrontiert ist: Seine Tage als industrielle Supermacht könnten sich dem Ende zuneigen. Die Produktion des verarbeitenden Gewerbes in Europas grösster Volkswirtschaft ist seit 2017 tendenziell rückläufig, und mit der sinkenden Wettbewerbsfähigkeit beschleunigt sich der Rückgang.

«Es gibt wenig Hoffnung, das sage ich ehrlich», sagt Stefan Klebert, CEO des Anlagenbauers GEA, dessen Wurzeln in die späten 1800er Jahre zurückreichen. «Es gibt viele, viele Dinge, die diesen Standort massiv schwächen und die schieflaufen. Ich bin wirklich unsicher, ob wir diesen Trend aufhalten können.»

Die Grundpfeiler des deutschen Industrieapparats sind wie Dominosteine umgefallen. Die USA entfernen sich von Europa und versuchen, mit ihren transatlantischen Verbündeten um Klimaschutzinvestitionen zu konkurrieren. China ist nicht länger ein unersättlicher Abnehmer deutscher Industrieprodukte und wird immer mehr zum Konkurrenten. Der letzte Schlag für einige Schwerindustrieunternehmen war der Wegfall der Lieferungen von billigem Erdgas aus Russland.

Neben den globalen Unwägbarkeiten verschärft die politische Lähmung in Berlin nationale Probleme wie eine marode Infrastruktur, eine alternde Erwerbsbevölkerung und den bürokratischen Wust. Das Bildungssystem, einst eine Stärke, steht sinnbildlich für den langanhaltenden Mangel an Investitionen in öffentliche Dienstleistungen. Das Ifo-Institut schätzt, dass sinkende mathematische Fähigkeiten der Schulabgänger bis zum Ende des Jahrhunderts etwa 14 Billionen Euro an Wirtschaftsleistung kosten werden.

Umfassende Deindustrialisierung?

In einigen Fällen vollzieht sich der industrielle Abschwung in kleinen Schritten, indem Expansions- und Investitionspläne zurückgeschraubt werden. Andere sind offensichtlicher, wie die Verlagerung von Produktionslinien und Personalabbau. In extremen Fällen — wie beim Rather Röhrenwerk — ist die Konsequenz die endgültige Schliessung.

«Der Schock war natürlich riesig», sagt Wolfgang Freitag, der als Teenager in dem Werk anfing zu arbeiten. Die Aufgabe des 59-Jährigen ist es nun, den Abbau der Anlagen zu begleiten und seinen alten Kollegen zu helfen, neue Jobs zu finden. Deutschland hat immer noch viel Substanz, einschliesslich einer beneidenswerten Reihe kleiner, wendiger Hersteller, und die Bundesbank und andere weisen die These zurück, dass eine umfassende Deindustrialisierung bevorsteht. Aber da die Reformen ins Stocken geraten sind, ist unklar, wie der Niedergang aufgehalten werden kann.

«Wir sind nicht mehr wettbewerbsfähig», sagte Finanzminister Christian Lindner letzte Woche bei einer Bloomberg-Veranstaltung. Deutschland werde «immer ärmer, weil wir kein Wachstum haben, wir fallen zurück.» Die zerstrittene Koalition von Bundeskanzler Olaf Scholz kam Mitte November in die Bredouille, als das Verfassungsgericht die Haushaltstricks abstellte, mit denen sich die Ampel noch einen gewissen Spielraum für Investitionen geschaffen hatte.

«Man muss kein Pessimist sein, um zu sagen, dass das, was wir bislang tun, nicht ausreichen wird, um die Wirtschaftsstruktur Deutschlands und unseren Wohlstand über die nächsten zehn Jahre zu erhalten», sagt Volker Treier, Aussenwirtschaftschef des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK). «Die Geschwindigkeit des Strukturwandels ist schwindelerregend.»

Frustration ist weit verbreitet. Obwohl in den letzten Wochen Hunderttausende auf die Strasse gegangen sind, um gegen Rechtsextremismus zu protestieren, liegt die Alternative für Deutschland (AfD) in den Umfragen vor allen drei Regierungsparteien und nur hinter der Union. Scholz’ Koalition hat ihr politisches Kapital weitgehend verbraucht.

Die schwindende industrielle Wettbewerbsfähigkeit droht Deutschland nach Meinung von Maria Röttger, der Nordeuropa-Chefin von Michelin, in eine Abwärtsspirale zu stürzen. Bis 2025 schliesst der französische Reifenhersteller zwei seiner deutschen Werke und gibt die Neureifen-Produktion in einem dritten Werk auf, was 1.500 Arbeiter betrifft. Der US-Rivale Goodyear hat ähnliche Pläne für zwei Werke.

Pumpenfabrik schliesst zugunsten eines neueren Standorts in Polen

«Trotz der Motivation unserer Mitarbeiter sind wir an einem Punkt angekommen, an dem wir Lkw-Reifen nicht mehr zu wettbewerbsfähigen Preisen aus Deutschland exportieren können», so Röttger. «Wenn Deutschland nicht mehr wettbewerbsfähig im internationalen Kontext exportieren kann, verliert das Land eine seiner grössten Stärken.»

Andere Beispiele für den Niedergang tauchen regelmässig auf. GEA schliesst eine Pumpenfabrik in der Nähe von Mainz zugunsten eines neueren Standorts in Polen. Der Automobilzulieferer Continental kündigte im Juli an, das Werk für Komponenten für Sicherheits- und Bremssysteme in Gifhorn schrittweise zu schliessen. Der Konkurrent Robert Bosch ist dabei, Tausende von Arbeitsplätzen abzubauen.

Die Energiekrise im Sommer 2022 war ein wichtiger Auslöser. Zwar konnten die schlimmsten Szenarien wie ungeheizte Wohnungen und Rationierungen vermieden werden, doch sind die Preise nach wie vor höher als in anderen Volkswirtschaften, was zu den Kosten aufgrund höherer Löhne und komplexer Vorschriften hinzukommt.

Mit am stärksten betroffen ist die chemische Industrie, eine direkte Folge des Verlusts von billigem russischem Gas. Da die Umstellung auf sauberen Wasserstoff noch in den Kinderschuhen steckt, plant fast jedes zehnte Unternehmen eine dauerhafte Einstellung von Produktionsprozessen, so eine aktuelle Umfrage des Branchenverbands VCI. BASF, Europas grösster Chemieproduzent, baut 2600 Stellen ab, und Lanxess reduziert die Belegschaft um 7 Prozent.

Auch die schleppende Bürokratie in Deutschland hält nicht Schritt, selbst wenn Unternehmen bereit sind zu investieren. GEA installierte Solarkapazitäten in einer Fabrik im münsterländischen Oelde, wo das Unternehmen Zentrifugalseparatoren herstellt, die Rahm von Milch trennen. GEA beantragte die Genehmigung zur Einspeisung des Stroms im Januar letzten Jahres, zwei Monate vor Baubeginn, und wartet immer noch auf die Genehmigung — fast zwei Jahre nach Beginn des Projekts.

Die Energiekrise kam kurz nach der Pandemie, die lange die Fliessbänder stillstehen liess. Deutsche Autohersteller warteten monatelang auf Chips und andere Komponenten, was die Risiken unterstrich, die mit der Abhängigkeit von einem weit verzweigten Netz von Zulieferern, insbesondere in Asien, verbunden sind.

China macht Deutschland zu schaffen

China macht Deutschland nun in mehrfacher Hinsicht zu schaffen. Zusätzlich zur strategischen Hinwendung zu fortschrittlichen Fertigungstechnologien lässt die anhaltende Abkühlung der Wirtschaft des Landes die Nachfrage nach deutschen Waren kurzfristig noch weiter sinken. Gleichzeitig beunruhigt die Billigkonkurrenz aus China Schlüsselindustrien für die von der Regierung forcierte Energiewende — und nicht nur Elektroautos.

Hersteller von Solarmodulen schliessen Betriebe und bauen Personal ab, da sie mit der staatlich geförderten chinesischen Konkurrenz nicht mithalten können. Die in Dresden ansässige Solarwatt hat bereits ein Zehntel ihrer Belegschaft entlassen und könnte die Produktion ins Ausland verlagern, wenn sich die Lage in diesem Jahr nicht bessert, so Geschäftsführer Detlef Neuhaus.

Der Gegenwind erfordert Anpassung. Für EBM-Papst, einen Hersteller von Lüftern und Ventilatoren, bedeutete die Industriekrise die Übernahme eines angeschlagenen Zulieferers und die Umstellung auf Komponenten für Wärmepumpen und Rechenzentren und weg vom Automobilsektor. Ausserdem will das Unternehmen einige Verwaltungsaufgaben nach Osteuropa oder Indien verlagern.

«Es ist ja nicht nur die Energie, sondern auch die Personalverfügbarkeit in Deutschland, die mittlerweile sehr angespannt ist», sagt CEO Klaus Geissdörfer. «Wenn man sich jetzt die Demografie anschaut, wie es in zehn Jahren in Deutschland aussehen wird, werden wir einfach strukturell deutlich zu wenig Arbeitskräfte haben.» Die Bundesbank kam in einer Studie jüngst zu dem Schluss, dass ein Rückgang des verarbeitenden Gewerbes — knapp 20% der Wirtschaft, fast doppelt so viel wie in den USA — nicht besorgniserregend sein muss, wenn er allmählich erfolgt.

Doch ein solcher Trend würde für weitere Hersteller wie das Röhrenwerk in Düsseldorf-Rath das Ende bedeuten. Betriebsrat Freitag hilft nun dabei, das 90 Hektar grosse Areal für den Verkauf vorzubereiten. Ein Grossteil der Anlagen und der Ausrüstung wandert auf den Schrott. «Da weint das Herz und das Auge,» sagte er. «Ich habe das als Maschinenschlosser 30 Jahre lang gewartet.»

(Bloomberg)