Fast eine halbe Billion Euro - das ist Reuters-Berechnungen zufolge der kumulierte Umfang der Rettungsmassnahmen und Hilfsprogramme, mit denen die Bundesregierung die bedrohte Energieversorgung aufrechterhalten will. Und es könnten noch mehr werden. "Wie schwer diese Krise sein wird und wie lange sie dauern wird, hängt stark davon ab, wie sich die Energiekrise entwickelt", sagt Michael Grömling vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW). "Der gesamten Volkswirtschaft droht ein enormer Wohlstandsverlust."

Über 440 Milliarden Euro wurden den Berechnungen zufolge, die erstmals alle deutschen Massnahmen zur Stützung der Stromversorgung und zur Sicherung neuer Energiequellen einbezieht, bislang zur Seite gelegt. Das sind rund 1,5 Milliarden Euro pro Tag, seit Russland am 24. Februar einen Angriffskrieg gegen die Ukraine gestartet hat. Oder zwölf Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung. Oder rund 5400 Euro pro Person in Deutschland. Das Wirtschaftsministerium, das auch für die Energiesicherheit zuständig ist, wollte die Reuters-Berechnungen nicht kommentieren. Es arbeite weiter an der Diversifizierung der Versorgung, erklärte es.

Europas grösste Volkswirtschaft, die lange Zeit als Synonym für umsichtige Planung galt, ist nun buchstäblich dem Wetter ausgeliefert. Denn im Fall einer langen Kälteperiode in diesem Winter, dem ersten seit einem halben Jahrhundert ohne russisches Gas, drohen Energierationierungen. Ausgewichen wurde bislang unter anderem auf kostspieligere Spotmärkte für Energie, um einen Teil der ausgefallenen russischen Lieferungen zu ersetzen.

Das hat mit dazu beigetragen, dass die Inflationsrate auf mehr als zehn Prozent hochgeschossen ist – Werte, die seit vielen Jahrzehnten nicht mehr zu sehen waren. Die Energiesicherheit bleibt schwierig, denn der Ausbau der beiden Alternativen - Flüssigerdgas (LNG) und erneuerbare Energien - ist noch Jahre von den Zielniveaus entfernt.

Hohe Import-Rechnung

"Die deutsche Wirtschaft ist jetzt in einer sehr kritischen Phase, weil die Zukunft der Energieversorgung unsicherer ist denn je", sagt Stefan Kooths, Vizepräsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) und Direktor des Forschungszentrums Konjunktur und Wachstum. "Wo steht die deutsche Wirtschaft? Wenn wir uns den Preisauftrieb anschauen hat sie hohes Fieber. Es geht jetzt darum, fiebersenkende Massnahmen zu ergreifen." Die aktuelle Situation sei am ehesten vergleichbar mit den Energiekrisen der 70er Jahre.

Der teurere Strom wird in der Tat schmerzhaft sein für eine Volkswirtschaft, die nach den Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) im nächsten Jahr von den G7-Ländern am stärksten schrumpfen wird. Nach Daten des IfW wird die Energieimport-Rechnung Deutschlands in diesem und im nächsten Jahr voraussichtlich um insgesamt 124 Milliarden Euro zunehmen, nach einem Wachstum um sieben Milliarden 2020 und 2021.

Das stellt eine grosse Herausforderung für die energieintensiven Industrien des Landes dar. Die Chemiebranche, die mit am stärksten von den steigenden Energiekosten betroffen ist, rechnet 2022 mit einem Produktionsrückgang von 8,5 Prozent, so der Verband der Chemischen Industrie (VCI), der vor massiven Strukturbrüchen in der deutschen Industrielandschaft warnt.

Schon fast Umfang der Corona-Hilfen

Die Gelder, die für die Bekämpfung der Energiekrise vorgesehen sind, reichen schon fast an die rund 480-Milliarden-Euro-Bazooka heran, die Deutschland laut dem IW seit 2020 aufgewendet hat, um die Folgen der Covid-Pandemie für die Wirtschaft abzumildern. Die Summe umfasst mehrere Hilfspakete im Volumen von 295 Milliarden Euro, darunter die 51,1 Milliarden Euro teure Rettung des Stromkonzerns Uniper und ein 14 Milliarden Euro schweres Rettungspaket für Sefe - früher bekannt als Gazprom Germania.

Zu der Summe gehören auch bis zu 100 Milliarden Euro an Liquidität für Versorger, um ihre Geschäfte gegen Zahlungsausfälle abzusichern, und rund zehn Milliarden Euro für Infrastruktur zum Import von LNG. Dazu gesellen sich Zusagen in Höhe von 52,2 Milliarden Euro durch die staatliche Förderbank KfW, um Versorgerfirmen und Händlern zu helfen, Gasspeicher aufzufüllen, Kohle zu kaufen, Gasbeschaffungsquellen zu ersetzen und Nachschussforderungen abzudecken, wie aus KfW-Daten hervorgeht.

Trotz dieser enormen Anstrengungen gibt es wenig Gewissheit darüber, wie Gas aus Russland ersetzt werden kann. Laut dem europäischen Statistikamt Eurostat und dem Industrieverband BDEW importierte Deutschland im vergangenen Jahr etwa 58 Milliarden Kubikmeter (bcm) Gas aus Russland. Das entsprach etwa 17 Prozent des deutschen Energieverbrauchs.

Deutschland strebt an, dass der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung bis 2030 von 42 Prozent im Jahr 2021 auf mindestens 80 Prozent zunimmt. Bei den derzeitigen Ausbauraten liegt dieses Ziel jedoch noch in weiter Ferne. Im Jahr 2021 wurden in Deutschland lediglich 5,6 Gigawatt (GW) an Solarkapazitäten und 1,7 GW an Onshore-Windkapazitäten installiert.

Um das 80-Prozent-Ziel zu erreichen, müssten die Installationen neuer Onshore-Windkraftanlagen und neuer Solaranlagen deutlich schneller vorangetrieben werden, wie aus einem Bericht der Bundesregierung und der Bundesländer vom Oktober hervorgeht. Aus Sicht von Susi Dennison, Senior Policy Fellow beim Think-Tank European Council on Foreign Relations (ECFR), hat Deutschland zwar einen guten Job gemacht, Gasmengen durch Strom aus dem Spotmarkt zu ersetzen, dabei aber seinen Ruf als Vordenker in Sachen sauberer Energie eingebüßt. "Was bei der deutschen Strategie wirklich fehlt, ist ein ähnliches Augenmerk auf einen schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien" merkte sie an. Jetzt sei die Zeit, in die Infrastruktur von Wasserstoff und Windkraft zu investieren, um Gas zu ersetzen.

Schwierige LNG-Pläne

Im März hatte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck das Ziel ausgegeben, russisches Gas bis Mitte 2024 zu ersetzen. Viele Wirtschaftswissenschaftler und Akteure aus der Energiebranche halten dies für zu ehrgeizig. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), und Markus Krebber, Vorstandschef des größten deutschen Stromerzeugers RWE, erwarten, dass dies frühestens 2025 gelingen könnte - und auch nur dann, wenn alternative Energiequellen gefunden oder schnell ausgebaut werden.

Auch beim Thema LNG müssen noch grosse Anstrengungen unternommen werden. Da Deutschland aufgrund seiner langjährigen Abhängigkeit von russischem Gas über keine eigene LNG-Infrastruktur verfügt, beginnt der Aufbau der Importkapazitäten erst jetzt. Um die Gasversorgung zu diversifizieren, setzt Deutschland vorerst auf schwimmende Importterminals, von denen der erste vor wenigen Tagen in Betrieb genommen wurde. Weitere sollen bis Ende 2023 folgen.

Nach Angaben des ECFR hat Deutschland seit dem vollständigen Stopp der russischen Gaslieferungen im Sommer nur zwei feste LNG-Verträge abgeschlossen - kurzfristige Vereinbarungen für die nächsten beiden Winterperioden. Dazu gehört ein Vertrag über eine Milliarde Kubikmeter (bcm) pro Jahr zwischen dem australischen Unternehmen Woodside und dem Energiekonzern Uniper, der inzwischen in Staatsbesitz ist. Ein weiterer Vertrag wurde zwischen der Abu Dhabi National Oil Company und RWE geschlossen und umfasst eine Lieferung von 137.000 Kubikmeter im Dezember und nicht näher bezeichnete weitere Lieferungen im Jahr 2023.

Uniper und RWE erklärten, dass sie in der Lage seien, weitere Lieferungen über ihr LNG-Portfolio sicherzustellen, nannten aber keine Einzelheiten. EnBW teilte mit, Lieferverträge würden noch ausgearbeitet und man halte nach Gelegenheiten auf dem Markt Ausschau. Die hektische Reisetätigkeit von Habeck und Bundeskanzler Olaf Scholz der vergangenen Monate zeigt, wie schwierig es ist, langfristige Verträge abzuschließen.

Auf der Suche nach zusätzlichen Mengen sind sie in diesem Jahr kreuz und quer durch die Welt geflogen, unter anderem nach Kanada, Katar und Norwegen. "Ich denke, Deutschland hat alles getan, was es konnte", sagt Giovanni Sgaravatti, Forschungsananalyst bei der europäischen Denkfabrik Bruegel. "Auf dem LNG-Markt musste Deutschland bei Null anfangen, das ist nicht einfach." 

(Reuters)