Rund 8 acht Prozent hat der Ölpreis diese Woche verloren und damit einen neuen Jahrestiefpunkt erreicht. Ein Fass der Sorte Brent kostete am Freitagmorgen am Terminmarkt weniger als 73 Dollar, Rohöl der Sorte WTI wird unter 70 Dollar gehandelt.

Für viele Beobachterinnen und Beobachter kommt der Preiszerfall überraschend, befindet sich doch der Nahe Osten, von wo ein Drittel des Ölangebots kommt, seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel vor bald einem Jahr im Ausnahmezustand.

Hinzu kommt der anhaltende innerstaatliche Konflikt in Libyen, Afrikas grösstem Ölproduzenten. Das Land ist gespalten – wegen zwei sich rivalisierenden Regierungen. Der Osten und der Süden, wo die Fördergebiete und die grossen Exporthäfen liegen, werden von General Chalifa Haftar und seinen Truppen kontrolliert. Die international anerkannte Regierung von Premier Abdul Hamid Dabeiba beherrscht mit Milizen den Nordwesten um die Hauptstadt Tripolis, und damit auch die dort ansässige staatliche Ölfirma und die Zentralbank, die die Öleinnahmen verwaltet. 

Der Streit um die Kontrolle über die Zentralbank und die Ölgelder führt immer wieder zur Besetzung von Ölfeldern und zu Ausfuhrbeschränkungen. So standen auch Anfang Woche wieder die grossen Häfen still und die Produktion lief nur eingeschränkt. 

Die Nachricht, die Konfliktparteien stünden kurz vor einer Einigung, weckte in den letzten Tagen nun die Hoffnung, dass sich die libyschen Ölexporte normalisieren. 

Mehr Angebot bedeutet jedoch Druck auf die Preise. Gleichzeitig deuten Konjunkturindikatoren aus China und den USA auf eine schwächere Ölnachfrage hin – ein toxisches Gemisch, das den Ölpreis auf den tiefsten Stand seit Monaten gedrückt hat. 

Opec reagiert zurückhaltend

Am Donnerstag liess die Organisation Erdöl exportierender Länder und ihre Verbündeten (Opec+) verlauten, dass die für Oktober und November geplante Erhöhung der Ölproduktion um 180’000 Fass pro Tag verschoben werden soll. An der grundsätzlichen Strategie, die vor einem Jahr beschlossenen Förderkürzungen etwas zurückzufahren und bis zu 2,2 Millionen Fass pro Tag mehr zu pumpen, hält das Kartell allerdings fest. 

Für viele ölexportierende Länder ist der Ölpreis zu niedrig, um die Staatsausgaben zu decken. Gemäss neusten Schätzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) braucht etwa Saudi-Arabien einen Ölpreis von 96 Dollar für ein ausgeglichenes Haushaltsbudget.

Auch Russland nimmt mit sinkenden Ölpreisen weniger ein. Der Preis für russisches Erdöl der Sorte Urals liegt nur noch knapp über 60 Dollar pro Fass.

Theoretisch sollte der Preisrückgang Russlands Einnahmen nicht gross tangieren, weil wegen der Sanktionen der G7 die Tanker mit Hilfe westlicher Versicherungen nur Öl exportieren dürfen, das weniger als 60 Dollar kostet. Doch in der Praxis hat Russland die Sanktionen mit Schattenflotten umgangen und auch teureres Öl verschifft, als der Marktpreis höher war. 

Weniger Inflation verbessert Ausgangslage für Kamala Harris

Für die Konsumentinnen und Konsumenten im Westen sorgt die Ölbaisse für eine weitere Entspannung der Kaufkraftkrise. Benzin-Futures sind in New York auf dem Niveau von Ende 2021. Auch in der Schweiz sinkt der Spritpreis. Heizöl ist bereits günstiger als vor dem russischen Angriff auf die Ukraine.

Der tiefere Ölpreis könnte auch die US-Präsidentschaftswahlen beeinflussen. Denn die Preise an der Tankstelle sind entscheidend für das Vertrauen der US-Konsumenten in die Wirtschaft. Unter der Biden-Regierung ist die Wirtschaft zwar gut gelaufen und hat viele Jobs geschaffen, wegen der Inflation und der hohen Benzinpreise sind aber viele Amerikanerinnen und Amerikaner trotzdem unzufrieden. Der demokratischen Kandidatin Kamala Harris kommen die sinkenden Spritpreise daher gelegen.

Dieser Artikel ist zuerst in der Handelszeitung erschienen.