cash.ch: Makroökonomische Analysen basieren auf Daten, die meist einen Zustand in der Vergangenheit beschreiben. Wie ist es so überhaupt möglich, zuverlässige Konjunktur-Prognosen zu treffen?
Marc Brütsch: Wir Ökonomen können mittlerweile auf eine sehr gute Datenlage zurückgreifen. Dazu gehören beispielsweise auch quasi Live-Daten wie die Mobilitätsindikatoren von Google, die insbesondere während der Corona-Zeit Bedeutung hatten. Die Datenlage heute vermittelt vor allem kurzfristig ein besseres Bild der Wirtschaftsdynamik als früher. Die jüngste Entwicklung hat zudem bestätigt, dass die Geldpolitik die erwartete zyklische Wirkung auf die kurzfristige Konjunkturdynamik hat.
Und auf lange Frist?
Für langfristige Prognosen auf fünf bis zehn Jahre hilft uns vor allem die Demographie-Prognose, um das potenzielle Wachstum abzuschätzen.
Das klingt so, als wäre das Prognose-Geschäft einfacher als früher…
Nicht unbedingt. Heute spielt der Faktor Geopolitik erstmals in meiner dreissigjährigen Tätigkeit als Ökonom eine grössere Rolle in der makroökonomischen Analyse. Auch mögliche Effekte durch die Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz und durch den Klimawandel verstärken die Unsicherheit und sind schwer quantifizierbare Einflussgrössen.
Der Einfluss der Künstlichen Intelligenz auf das Wirtschaftswachstum kann noch nicht abgeschätzt werden?
Mitte 2023 veröffentlichte die Internationale Arbeitsorganisation eine Studie dazu, was die Künstliche Intelligenz für die Beschäftigung bedeutet und welche Sektoren durch Arbeitsplatzabbau davon betroffen sind. Aber das sind vorerst eher Arbeitsthesen.
Auf welche Indikatoren sollten Anlegerinnen und Anleger achten?
Die Privatanleger sollten sich grundsätzlich nicht mit Timing-Fragen beschäftigen. Aber um ein Gespür für die konjunkturelle Entwicklung zu bekommen, eignen sich Einkaufsmanagerindizes als zyklische Indikatoren. Dort kann man den Auftragseingang in der Industrie nachverfolgen. Und jetzt, wo geldpolitische Massnahmen im Bereich der Leitzinsen wieder eine relevante Rolle spielen, ist die Markterwartung sehr wichtig. Wann die Geldpolitik gelockert wird, ist entscheidend dafür, wie risikohaft man am Markt agiert.
Inflation oder Wachstum: Welche ökonomische Kraft macht Ihnen derzeit mehr Bauchschmerzen?
Das Wirtschaftswachstum. Die Notenbanken haben bei der Inflationsbekämpfung ihren Job gemacht. Die Teuerung erwies sich entgegen vieler Stimmen grösstenteils als vorübergehend. Der Preis der getroffenen Massnahmen ist jetzt eine ziemlich deutliche Abkühlung der wirtschaftlichen Dynamik.
Gingen die Notenbanken mit den Leitzinserhöhungen zu weit?
Der letzte Zinsschritt der Europäischen Zentralbank (EZB) war vermutlich einer zu viel. Wie gross der Schaden sein wird, gilt es abzuwarten. Die negativen Auswirkungen der repressiven Geldpolitik sind im Fall der USA wohl nur aufgeschoben, aber nicht ganz aufgehoben. Fakt ist aber auch, dass die Inflationsziele der Zentralbanken wieder in Griffweite gerückt sind. In der Schweiz liegt die Teuerung bereits im Zielbereich der Schweizerischen Nationalbank (SNB), die Eurozone sollte das Inflationsziel im vierten Quartal erreichen, nur die US-Notenbank Fed lässt eine höhere Inflationstoleranz erkennen.
Der Konsum gilt als eine der wichtigsten Stützen der Weltwirtschaft. Was ist hier Ihre Prognose?
Die Kaufkraftkrise in Form von sinkenden Reallöhnen findet 2024 ein Ende. Mit der Stabilisierung beim Auftragseingang in der Industrie und den rückläufigen Finanzierungskosten dank tieferer Leitzinsen sollte die Weltwirtschaft zur Jahresmitte 2024 der Talsohle entkommen.
Wie steht es um den US-Konsumenten?
Der US-Konsument ist sicherlich ausgabefreudiger als das europäische Pendant. Die Ersparnisse aus Pandemie-Zeiten wurden bereits wieder aufgebraucht. Bei einer Abkühlung des Arbeitsmarkts könnte sich jedoch auch beim US-Konsument wieder eine gewisse Zurückhaltung einstellen.
Welche Rolle nimmt die Fiskalpolitik bei Ihrem Konjunkturausblick ein?
Das Haushaltsdefizit in den USA oder Frankreich steigt weniger stark als in 2023. Damit wird die Fiskalpolitik 2024 zu einem Bremsklotz für das Wirtschaftswachstum.
Dem gegenüber steht eine US-Fiskalpolitik, die aus dem Ruder zu geraten scheint. Wann wird die hohe Schuldenlast zu einem Problem?
Es gibt das Konzept der Finanzrepression; Staaten können über regulatorischen Druck institutionelle Investoren dazu “zwingen”, Staatsanleihen zu kaufen. Die italienischen Lebensversicherer zum Beispiel haben mehr als 40 Prozent ihrer Bilanz in italienischen Staatsanleihen. Der Regulator sagt, dass dies risikofrei sei, weshalb man weniger Eigenkapital hinterlegen muss. Dieses Konzept funktioniert grundsätzlich so lange, wie das Kreditrating stabil bleibt.
Wie ordnen Sie die Wirtschaftslage in der Eurozone ein? Die hohen Energiepreise lasten ja insbesondere auf der Industrie in Deutschland.
Deutschland ist nicht so gut aufgestellt, da man sich in den letzten 20 Jahre sehr auf dem billigen russischen Erdgas und dem günstigen Euro ausgeruht hat. Zuletzt erlebte Deutschland eine gewisse Abwanderung der Industrie. Für dieses Jahr ist es schwer zu quantifizieren, was der Entscheid des Verfassungsgerichts betreffend des Haushalts ausmacht. Die zyklischen Faktoren sind aber für das laufende Jahr positiv.
Sie sprechen damit auch die geldpolitischen Impulse an, die dieses Jahr kommen werden. Was ist Ihre Prognose über das weitere Vorgehen der US-Notenbank Fed und der Europäischen Zentralbank EZB?
Bei Swiss Life Asset Managers gehen wir davon aus, dass die EZB im April mit einer Leitzinssenkung um 25 Basispunkte vorlegen wird. Die Fed wird voraussichtlich im Zeitraum Mai bis Juli mit 50 Basispunkten nachziehen. Insgesamt werden die Leitzinsen 2024 gemäss unseren Prognosen in Europa um 1,5 Prozentpunkte und in den USA um 1,25 Prozentpunkte zurückgehen.
Warum hat China 2023 kein Comeback hingelegt?
Das Potenzialwachstum in China geht klar zurück, der Wachstumsmotor für die Weltwirtschaft fällt weg. China versucht aber alles, um von der vorherrschenden deflationären Tendenz wegzukommen. Die Entscheidungsträger wissen genau, was mit Japan beim demographischen Tipping Point passiert ist, und haben daraus ihre Lehren gezogen. Für 2024 wird die Wirtschaft in China gemäss unseren Prognosen nur um 4,7 Prozent wachsen. In der Schweiz spürt man die Schwierigkeiten Chinas zum Beispiel daran, dass die Logiernächte chinesischer Gäste in Europa vorerst nicht wieder auf das Niveau von 2019 zurückkehren.
Wie sieht die Ausgangslage für die Schweizer Wirtschaft aus, deren Wachstum sich abgeschwächt hat?
Wir erwarten für die Schweiz 2024 ein Wirtschaftswachstum von 1 Prozent, wobei wir Ende Jahr eine Inflationsrate von 1,7 Prozent prognostizieren. Gleichzeitig erwarten wir zwei Leitzinssenkungen durch die SNB - je eine Senkung um 25 Basispunkte im September und im Dezember.
Was bedeutet dies für den Schweizer Franken?
Die SNB war 2023 in einer komfortablen Lage, da sie die Inflationsbekämpfung mit einem Abbau der Devisenreserven kombinieren konnte. Jetzt droht eine Umkehr. Insbesondere auch wegen der globalen Unordnung wird der Aufwertungsdruck auf dem Franken darum anhalten.
Was meinen Sie mit der globalen Unordnung?
Wir stehen vor einem Rekord-Wahljahr: Am kommenden Samstag startet Taiwan, im Juni sind Europawahlen und im November wird der neue US-Präsident bestimmt. Die Tendenz zu einer neuen globalen Unordnung verstärkt sich, da populistische Kräfte Aufwind haben.
Der Aufwertungsdruck auf dem Franken bleibt hoch…
Auch das Zinsdifferential sorgt für einen Aufwertungsdruck, da die SNB wohl die Leitzinsen weniger stark senken wird, als die EZB oder die Fed.
Ist dies nicht schon eingepreist?
Ja, der Franken hat sich in den letzten Wochen aufgewertet. Wir sehen aber aktuell keinen Grund, eine Entspannung zu erwarten. Ende Jahr sehen wir den Wechselkurs zum Euro ungefähr auf dem aktuellen Niveau.
Wie beurteilen Sie das Agieren der SNB?
Die SNB hat ihre Mission bezüglich der Inflation 2023 erfüllt. Das hat sie unter anderen auch damit bestätigt, dass sie die Leitzinsen im September 2023 nicht noch einmal erhöht hat.
Was bedeutet diese Ausgangslage für die Finanzmärkte?
In der ersten Jahreshälfte setzen wir vor allem auf globale Regierungsanleihen und auf defensive Sektoren und Strategien bei den Aktien. Wachstumsorientierte Aktien werden wohl erst in der zweiten Jahreshälfte interessant. Der US-Aktienmarkt ist wieder teuer, ähnliches gilt für den Schweizer Aktienmarkt. In ersterem birgt zudem das erwartete Wachstum bei den “Magnificent 7” von 51 Prozent Enttäuschungspotenzial.
Sehen Sie wegen der politischen Unordnung derzeit auch Risiken?
Vieles ist wohl schon vorweggenommen. Und politische Börsen haben gemeinhin ja kurze Beine.
Marc Brütsch bekleidet seit März 2000 die Funktion des Chefökonomen von Swiss Life Asset Managers. Er ist seit 1993 bei Swiss Life tätig. Brütsch studierte Volkwirtschaftslehre und Publizistikwissenschaft an der Universität Zürich. Marc Brütsch und sein Team wurden 2022 bereits zum fünften Mal in den letzten acht Jahren mit dem "Forecast Accuracy Award" für die beste BIP- und Inflationsprognose für die Schweiz ausgezeichnet.
1 Kommentar
erstens kommt es anders, zweitens als manF denkt
wie wäre es, wenn wir mal ein stabiles
0 wachstum nachdenken würden
das wirtschaftswachstum war / ist der hauptschuldige an unserer kommenden klimakatastrophe