cash.ch: Herr Bradshaw, wie gestaltet sich Ihr Verhältnis zu Technologie?

Michael Bradshaw: Vor meiner aktuellen Rolle als Leiter der Bereiche Applications, Data & AI war ich nach einer langen Karriere in der Unternehmens- und IT-Branche als CIO bei Kyndryl tätig. Ich bin also ein Praktiker durch und durch, kein Berater und kein Verkäufer. 

Eine technologische Revolution ist eine Phase, in der eine oder mehrere bestehende Technologien in kurzer Zeit durch eine neue, innovative Technologie ersetzt werden. Ist Künstliche Intelligenz diese neuartige Technologie?

Künstliche Intelligenz gibt es schon seit Jahrzehnten. Aus der Perspektive der USA könnte man sagen, dass ihre Ursprünge bis zu den Bell Labs zurückreichen, wo ein Grossteil der Signalverarbeitungsalgorithmen entwickelt wurde. Diese Algorithmen zielen im Wesentlichen darauf ab, das wahre Signal aus den vielen Datenpunkten herauszufiltern, die als Rauschen gelten. So betrachte ich künstliche Intelligenz.

Was ist jetzt neu?

In den letzten Jahren haben wir das Aufkommen der generativen KI erlebt. Diese Fähigkeiten und Technologien sind heute viel sichtbarer in der Gesellschaft. Man könnte auch argumentieren, dass Systeme wie Alexa von Amazon oder Siri von Apple frühe Inkarnationen dessen waren, was wir jetzt mit ChatGPT sehen. Es ist also eine reale Entwicklung, aber keine völlig neue. Die eigentliche Herausforderung, wie bei jeder anderen Technologie auch, besteht darin, herauszufinden, wie man sie effektiv in Unternehmen einsetzen kann. Der entscheidende Faktor dabei sind immer die Menschen.

Wie meinen Sie das?

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn wir auf die letzten zwei bis drei Jahrzehnte der digitalen Transformation zurückblicken, sehen wir, wie Unternehmensplanungsplattformen wie SAP und Oracle entstanden sind. Unternehmen haben immense Summen in diese Technologien investiert. Doch wenn man genau hinschaut, stellt sich die Frage, ob sie den Nutzen dieser Investitionen wirklich realisiert haben. In den meisten Fällen lautet die Antwort, dass sich die Investition nur nominal amortisiert hat. Warum? Weil die Menschen sich in vielen Fällen gegen Veränderungen gewehrt haben. Sie haben sich gegen Vereinfachungen gesperrt und Widerstand geleistet. Ich denke, wir stehen vor einer ähnlichen Herausforderung.

Sind wir noch nicht an einem entscheidenden Wendepunkt?

Wir müssen einen Schritt zurücktreten und betrachten, was jetzt anders ist als in den letzten Jahrzehnten. Gibt es beispielsweise mehr Unternehmen, die in der Lage sind, die Eintrittsbarrieren zu senken, sodass andere auf den Markt kommen, Fähigkeiten nutzen und übernehmen und eine Bedrohung für die etablierten Unternehmen darstellen? Für mich ist das die eigentliche Frage: Wenn es einem dieser Herausforderer gelingt, Marktanteile zu erobern, das Wachstum anzukurbeln und die etablierten Unternehmen wirklich herauszufordern, dann wird er zum Game-Changer. 

Gibt es bereits solche Disruptoren?

Ja, es gibt bereits erste Anzeichen dafür. Ein Beispiel ist Robinhood in den USA. Auch SoFi ist ein gutes Beispiel für ein Unternehmen, das den Mainstream-Finanzdienstleistungsbereich betritt, ohne eine traditionelle Bank zu sein. Virtuelles Banking ist kein neues Konzept, aber es wurde in verschiedenen Ländern und Regionen auf unterschiedliche Weise aufgenommen. Dieser Wandel steckt noch in den Anfängen und wird vermutlich branchenabhängig voranschreiten, zeichnet sich aber bereits ab. Es ist zum Beispiel viel schwieriger, in den Produktionsbereich einzudringen und dort innovative Veränderungen einzuführen. Tesla ist jedoch eine bemerkenswerte Ausnahme in der Automobilbranche, da sie inzwischen sogar in andere Bereiche expandieren. Dies hat andere Firmen dazu veranlasst, eine Startup-Mentalität zu übernehmen und traditionelle Hersteller herauszufordern. Ob wir schon eine kritische Masse erreicht haben, ist noch unklar, aber man kann erkennen, dass sich die Zusammenhänge herauszubilden beginnen.

Was sind die Herausforderungen für die Gesellschaft?

Die Herausforderung besteht darin, dass wir als Menschheit nicht immer mit der Geschwindigkeit mithalten können, die KI erzeugen kann. Daher ist ein verantwortungsvoller Umgang mit KI unerlässlich. Regierungen spielen hierbei eine wichtige Rolle, insbesondere bei der Regulierung.  Rückblickend haben diese in einigen Fällen zu langsam auf technologische Entwicklungen reagiert. Kyndryl hält sich als Unternehmen über alle neuen Vorschriften auf dem Laufenden, um unsere Kunden bestmöglich zu unterstützen.

Kyndryl ist ein weltweit tätiger IT-Infrastrukturdienstleister. Wo sehen Sie die grössten Herausforderungen aus dieser Perspektive?

Für globale Anbieter von Managed Services sind die grössten Herausforderungen häufig regulatorischer Natur. Wir müssen sicherstellen, dass wir die Vorschriften in allen Regionen, in denen wir tätig sind, einhalten. Das gilt sowohl für lokale Kunden in den USA als auch für internationale Unternehmen, die in den USA, Europa, Asien und anderen Teilen der Welt aktiv sind. Unterschiedliche Länder und Regionen haben ihre eigenen Vorschriften, und es ist entscheidend, dass wir diese einhalten. Dieses Verantwortungsbewusstsein erstreckt sich nicht nur auf KI, sondern auch auf Datenschutz und andere Aspekte unserer Dienstleistungen.

Wie sollen sich Unternehmen auf die Zukunft mit KI vorbereiten?

Der eigentliche Unternehmenswert liegt in den Daten. Oft lassen sich Unternehmen von Anwendungen und Technologien ablenken, anstatt den Fokus auf ihre Daten zu legen. Diese Daten sind das Herzstück des Wissens über Kunden und Produkte. In den vergangenen Jahrzehnten haben viele Unternehmen es versäumt, ihre Daten als wertvolles Vermögen zu verwalten, was zu isolierten Datensilos geführt hat. Bei Kyndryl arbeiten wir mit unseren Allianzpartnern zusammen, um Kunden bei der Identifizierung und Implementierung einer Datenplattform zu helfen, die ihre Geschäftsziele unterstützt.

Wie ist die Lösung?

Nachdem wir die IBM-Anwendungsumgebung verliessen, haben wir unsere Datenumgebung drastisch vereinfacht und von 60 verschiedenen Silo-Datenlösungen auf drei gemeinsame Datenlösungen umgestellt. Eine Lösung unterstützt alle Personalprozesse, eine andere enthält alle geschäftlichen Transaktionsdaten. Wir mussten diese beiden Ebenen zusammenführen, also haben wir eine Unternehmensebene, die diese beiden Bereiche miteinander verbindet. Da unser Kapital die Daten sind, haben wir eine Governance für diese entwickelt und ein Unternehmensdatenmodell erstellt. Ohne ein klares Verständnis und eine angemessene Datenverwaltung, ein Unternehmensdatenmodell und eine KI-Strategie ist es nahezu unmöglich, KI effektiv einzusetzen.

Was sind die grössten Fehlannahmen über Künstliche Intelligenz?

Der grösste Irrglaube ist, dass KI Magie ist. Viele denken, man müsse nur KI installieren und sofort hat man generative KI, die alle Probleme löst. Die komplexe Natur von Unternehmensumgebungen wird dabei oft übersehen. Vereinfachung ist möglich, aber das macht es nicht einfach. Ein weiteres Missverständnis besteht darin, wie KI tatsächlich in ein Unternehmen integriert werden kann. Es reicht nicht aus, nur die Technologie zu implementieren; man muss auch die Denkweise und die Verhaltensweisen der Mitarbeiter ändern und hinterfragen, wie man Arbeitsprozesse anders gestalten kann.

Die Menschen müssen mitziehen...

Es geht darum, wie die Menschen ihre Arbeit wertschätzen und wie das Unternehmen den Wert dieser Rollen anerkennt. Dies ist besonders wichtig, wenn es um die Reaktion auf den Einsatz von KI geht. Wenn wir die menschlichen Aspekte ausser Acht lassen, könnten unsere Mitarbeiter, deren Engagement und Fähigkeiten unser Unternehmen auszeichnen, demotiviert werden. 

Geht es um Wertschätzung?

Stellen Sie sich eine Bank vor: Wenn man den Mitarbeitern vermittelt, dass ihre Arbeit durch KI weniger wertvoll ist, könnte das ihre Motivation und Leidenschaft mindern. Sie könnten das Gefühl bekommen, nicht mehr geschätzt zu werden, und sich nach anderen Arbeitsmöglichkeiten umsehen. Das Management von organisatorischen Veränderungen wird damit noch wichtiger. Es ist entscheidend, dass wir den Wandel menschlich gestalten, respektvoll mit Mitarbeitern umgehen und Wege finden, sie umzuschulen und neue Aufgaben zu bieten. Die grösste Herausforderung für alle Branchen ist es, den organisatorischen Wandel mit einer menschenzentrierten Denkweise durchzuführen.

Michael Bradshaw ist Leiter der Bereiche Applications, Data & AI beim IBM-Spin-Off Kyndryl. In dieser Rolle konzentriert er sich darauf, Kunden bei der Modernisierung ihrer komplexen Technologieumgebungen und der Implementierung von KI zu unterstützen. Zuvor war Michael Bradshaw drei Jahre lang Chief Information Officer (CIO) von Kyndryl und leitete die technologische Transformation des Unternehmens. Bevor er zu Kyndryl kam, war Michael Bradshaw fast fünf Jahre lang als Executive Vice President und Chief Information Officer bei NBC Universal tätig. Dort leitete er die globalen IT-Aktivitäten des Unternehmens und beaufsichtigte die technische Infrastruktur, Anwendungen und IT-Strategie. Davor arbeitete er bei Lockheed Martin als Vice President und Chief Information Officer für Mission Systems and Training sowie als Vice President of Enterprise IT Services. Bradshaw stammt aus Durham, North Carolina, und schloss sein Studium an der University of North Carolina mit einem Bachelor of Science in Betriebswirtschaft und einem Master of Science in Informatik ab.

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