Investieren Anlegerinnen und Anleger anhand rationaler Kriterien wie etwa Anlagehorizont, erwartete Rendite und Diversifikation? Nein, sagt die Verhaltensökonomie. Ansonsten würden diese erwiesenermassen nicht eher in Börsentitel investieren, deren Namen sich leichter aussprechen lässt - lieber Dottikon als Polypeptide, zum Beispiel. Anleger haben dabei fälschlicherweise das Gefühl, das leichter aussprechende Unternehmen besser zu verstehen.
Selbst die gute Stimmung - weil die Sonne scheint - hat offenbar einen Einfluss und verleitet tendenziell zum Kaufen. Ein regnerisches Wetter hat den umgekehrten Effekt. Diese "irrationalen" Verhaltensmuster sind aber nicht zufällig, sondern basieren auf den menschlichen Gehirnfunktionen. Das heisst aber auch, dass diese "irrationalen" Denk- und Verhaltensmuster systematisch sind und entsprechend vorausgesagt werden können.
Die intensive Auseinandersetzung mit den eigenen Unzulänglichkeiten verspricht für Anleger und Anlegerinnen aber Besserung. Sie können Schäden reduzieren und den Anlageerfolg verbessern. Ein Überblick zu den sechs grössten Psycho-Fallen an der Börse:
1) Schockstarre - Angst vor Wiederaufnahme der Investitionen
An den Märkten kommt es immer wieder deutlichen Rücksetzern oder gar zu Crashes. So geschehen zur Dotcom-Zeit nach der Jahrtausendwende, bei der Finanzkrise oder nach Ausbruch der Corona-Pandemie. Die breite Masse von Anlegerinnen und Anlegern verfällt dann in eine Art Schockstarre und hält sich von den Märkten fern. Ein Phänomen, das man auch in diesem Jahr mit dem Ukraine-Krieg und der Zinswende beobachten kann. Die Handelsumsätze liegen derzeit rund 40 Prozent unter den Vorjahreswerten.
Anders ist das Verhalten in solchen Situationen von Grossinvestoren und so genannten Börsen-Gurus. Sie greifen bei gefallenen Kuren mutig zu. Denn sie haben Zeit und tätigen die Käufe mit Blick auf die zehn oder 20 nächsten Jahre. Und auch sie wissen genau: Den richtigen Zeitpunkt erwischen selbst sie als Börsen-Profis nicht. Falls doch, ist dies ein grosser Zufall. Aber ihre Befreiung aus der Schockstarre zahlt sich langfristig oft aus.
2) Herdenverhalten - Anleger als Lemminge
Finanzmärkte sind durch Herdenverhalten geprägt. Metaphorisch wird dieses Phänomen häufig mit Lemmingen assoziiert, die einander blind folgen und letztendlich gemeinsam in den Abgrund stürzen - sei es bei einem Crash oder bei einer Blase. Derartiges Verhalten tritt meist bei grosser Unsicherheit auf. Anleger fürchten, mit ihren eigenen Einschätzungen falsch zu liegen. "Wenn alle anderen es tun, liege ich wohl falsch", denken fatalerweise viele Anleger.
Die Gefahren und die warnenden Stimmen werden dabei ausgeblendet. Grund hierfür ist neben dem Herdenverhalten auch die Gier. Einige nennen dies einfach "Fomo" (Fear of missing out) - Angst, etwas zu verpassen. Zudem haben traditionelle wie auch soziale Medien einen starken Einfluss auf das Denken und Handeln der Menschen und können wie im Fall Gamestop einen regelrechten Hype befeuern. Der Aktienkurs hat sich im Januar 2021 innert kurzer Zeit verachtfacht.
Diese psychologische Falle wird an den Märkten gezielt ausgenutzt. Es ermöglicht "Marktmanipulation" - das sogenannte "Pump and Dump". Einige wenige Anleger jubeln eine einzelne Aktie mit falschen Analysen und Behauptungen hoch und verkaufen, solange der Hype noch anhält. Die Mehrzahl der Anleger - die Lemminge - kauft oftmals kurz vor oder auf dem Höhepunkt und verkauft schlussendlich mit Verlusten.
3) Selbstüberschätzung - Misserfolge sind immer Pech
Wenn man Autofahrer fragt, ob sie zu den besten 30 Prozent gehören, antworten 80 Prozent mit "ja". Denn Menschen neigen dazu, sich selbst und ihr Können zu überschätzen. Dieses Verhalten lässt sich auch auf Anleger übertragen und gehört zu den grössten Psycho-Fallen an den Finanzmärkten.
Wenn eine Aktie gut läuft, schreiben sich Anleger dies ihren guten Entscheidungen zu - man klopft sich auf die Schulter. Entpuppt sich die Aktie als Rohrkrepierer, finden Anleger schnell Ausflüchte. Der Markt interpretiert die Unternehmenszahlen schlichtweg falsch. Einfach ausgedrückt: Erfolge sind Können, Misserfolge Pech.
Die Selbstüberschätzung führt bei Anlegern schnell einmal dazu, dass sie ein höheres Risiko durch beispielsweise höhere Einsätze und geringe Diversifikation einzugehen - im schlechtesten Fall noch durch geliehenes Geld. Eine weitere Konsequenz der Selbstüberschätzung ist der Wunsch, noch aktiver am Markt zu handeln. Die Intervalle zwischen Ein- und Ausstieg werden minimiert, da man den Markt ja richtig einschätzt.
4) Verlustaversion - Anleger setzen auf Verliereraktien
Experimente der Verhaltensökonomie haben gezeigt, dass ein Verlust von 50 Franken mehr schmerzt als ein Gewinn von 50 Franken Freude bereitet. Aus diesem Grund versuchen Anleger oftmals, Verluste um jeden Preis zu vermeiden. Dies wird auch als Verlustaversion bezeichnet.
Dies zeigt sich in zweierlei Hinsicht an den Aktienmärkten: Der Aktienkurs sinkt nach dem Kauf und ein finanzieller Verlust zeichnet sich ab. Anleger neigen in diesem Fall dazu, mit dem Verkauf zuzuwarten - Verliereraktien bleiben im Depot. Umgekehrt tendieren Anleger dazu, nach einem Kursanstieg die gewinnbringende Aktie zu früh zu verkaufen. Wegen der Verlustaversion sind Anleger im Gewinnbereich risikoscheu und im Verlustbereich risikofreudig. Eine langjährige Gewinneraktie wie Amazon wird frühzeitig verkauft, eine Verliererakltie wie Credit Suisse nicht. Dies mindert auf lange Sicht die Rendite.
Die Verlustaversion kann ebenso dazu führen, ein Investment ständig aufzuschieben. Ein idealer Einstiegszeitpunkt wird abgewartet, um keine Verluste zu erleiden. Doch kurzfristige Schwankungen gehören an der Börse bekanntlich dazu. Und bei einem langfristigen Investment ist der ideale Zeitpunkt statistisch gesehen immer jetzt.
5) Bestätigungsfehler - Von der Lust, Recht zu haben
Menschen neigen dazu, Informationen so auszuwählen, dass diese ihre eigenen Erwartungen erfüllen. Vielen ist dieses als Bestätigungsfehler bezeichnete Verhalten aus den sozialen Netzwerken bekannt. Facebook, Google und Co. wollen ihre Nutzer möglichst lange auf ihren Plattformen halten - dies gelingt am besten mit Inhalten, die bestätigen oder bekräftigen.
Bei Anlegern treibt der Bestätigungsfehler seltsame Blüten. So wird bei Tesla beim "Investment Case" vielfach nur die Technologie und das Produkt hervorgehoben und die hohe Bewertung und die Unternehmenszahlen ausgeblendet. Oder bei einer Aktie, die man schon lange kaufen wollte, sehen Anleger nur die hohe Dividendenrendite und das niedrige Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV). Doch wahrscheinlich gibt es auch gute (negative) Gründe, warum die Aktie so günstig ist.
Dem Bestätigungsfehler unterliegen Menschen immer dann, wenn sie Vorurteile haben, und diese sich im Zeitablauf sogar noch verstärken. Wer beispielsweise von Bitcoin überzeugt und darin investiert ist, liest meist nur die positiven Analysen und bestätigt sich selbst.
6) Ankereffekt - wenn der Referenzpunkt unseren Verstand täuscht
Warum gibt es in der Weinkarte im Restaurant oftmals sehr teure Weine? Diese weitverbreitete Verkaufsstrategie zielt darauf ab, die anderen Weine als günstig erscheinen zu lassen. Die menschliche Psyche nimmt eine bestimmte Zahl bei einem Vergleich als Referenzpunkt - diese wirkt als Anker, daher die Bezeichnung Ankereffekt.
Gegen diesen sind auch Anleger nicht immun. Zahlen als Referenzpunkt beeinflussen die Verhältnismässigkeiten, unter denen Investitionsentscheide getroffen werden. Am offensichtlichsten ist dies bei einem Aktiensplit. Bei diesem werden existierende Aktien in eine grössere Anzahl neuer Aktien mit einem geringeren Nominalwert umgewandelt. Von einem Tag auf den anderen erscheint die Aktie günstiger, obwohl sie dies aufgrund der Bewertung nicht ist.
Der Ankereffekt entfaltet sich auch bei steigenden und fallenden Kursen. Eine Aktie steht bei 20 Franken und man beurteilt dies als günstigen Preis. Zwei Wochen später will man die Aktie kaufen, doch diese liegt nun bei 25 Franken. Dies erscheint nun teuer, obwohl dies unterhalb des errechneten fairen Wertes liegt - beispielsweise 30 Franken. Ein sinnvoller Kauf wird nicht getätigt.
Oder vielen erscheint die Aktie der UBS bei knapp 18 Franken als günstig, nur weil sie vor der Finanzkrise 2007/2008 75 Franken gekostet hat. Die strukturell ungünstigen Faktoren für den Bankensektor wie Niedrigzinsen oder die aufkommende Konkurrenz durch Fintechs werden bei einem Kauf ausgeblendet.
Dies ist eine aktualisierte Version eines cash-Artikels, der zuerst im September 2021 erschien.