Anlegerinnen und Anleger investieren erwiesenermassen eher in einen leicht aussprechbaren Börsentitel -  also lieber ABB als Polypeptide. Man hat dabei fälschlicherweise das Gefühl, das leichter aussprechende Unternehmen besser zu verstehen. Oder auch eine allgemein gehobene Stimmung - wenn etwa die Sonne scheint - hat einen Einfluss auf das Anlegerverhalten und verleitet in der Tendenz eher zu Käufen. Dauerregen dagegen hat den gegenteiligen Effekt. In anderen Worten: Anleger investieren nicht immer aufgrund rationaler Kriterien wie etwa Anlagehorizont, erwartete Rendite oder Diversifikation.

«Irrationale» Verhaltensmuster - auch Biases genannt - ist ein bevorzugtes Untersuchungsfeld der Verhaltensökonomie. «Wichtig ist, das Bewusstsein für diese Denkfehler und Verhaltensweisen zu schärfen und sein eigenes Anlageverhalten immer wieder selbstkritisch zu hinterfragen», sagt Raiffeisen-Anlagechef Matthias Geissbühler. Die intensive Auseinandersetzung mit den eigenen Unzulänglichkeiten kann Schäden reduzieren und den Anlageerfolg verbessern. Ein Überblick zu den grössten Psycho-Fallen und Denkfehlern an der Börse:

1) Herdenverhalten und «Fomo» - Anleger als Lemminge

Metaphorisch wird das Herdenverhalten an den Finanzmärkten häufig mit Lemmingen assoziiert, die einander blind folgen und letztendlich gemeinsam in den Abgrund stürzen. Das Phänomen hat auch gewisse Parallelen zum Thema «Fomo» (Fear of missing out) - die Angst, etwas zu verpassen. Anleger fühlen sich in der Masse wohler als alleine gegen den Strom zu schwimmen. Problematisch wird es dann, wenn unreflektiert und ohne klare, eigene Meinung auf mediale und börsentechnische Trends gesetzt wird. 

Der Börsenhype um die Künstliche Intelligenz (KI) ist ein aktuelles Beispiel. Aktien, welche sich diesem Thema «verschreiben» oder damit in Verbindung gebracht werden, gehen seit Monaten durch die Decke. Bevor Anleger «blind» in solche Titel investieren, sollten sie sich laut Geissbühler unter anderem folgende Fragen stellen: Welche Geschäftsmodelle basierend auf KI-Anwendungen lassen sich überhaupt profitabel betreiben? Wann wird die Gewinnschwelle erreicht? Wie sieht die Konkurrenzsituation aus? Sind die Bewertungen nachvollziehbar beziehungsweise was ist alles schon eingepreist?

«Wenn alle anderen es tun, liege ich wohl falsch», denken fatalerweise viele Anleger. Diese psychologische Falle wird an den Märkten gezielt ausgenutzt. Es ermöglicht «Marktmanipulation» - das sogenannte «Pump and Dump» wie bei den Meme-Aktien gesehen. Einige wenige Anleger jubeln eine einzelne Aktie mit falschen Analysen und Behauptungen hoch und verkaufen, solange der Hype noch anhält. «In der Regel gilt beim Herdenverhalten: Die Letzten beissen die Hunde. Oft führt diese ‹Strategie› zu Verlusten», warnt Geissbühler.

Verlustaversion - Wenn Anleger ungewollt auf Verlierer setzen

Laut Fabienne Hockenjos-Erni, Anlagechefin der Basellandschaftlichen Kantonalbank, gibt es im Anlagekontext weitere Psychofallen, die oft stärker zum Tragen kommen als Herdenverhalten oder Fomo. Dazu gehört die Verlustaversion: «Wir Menschen tendieren dazu, Verluste stärker zu fürchten als Gewinnpotenzial zu erkennen. Dies führt tendenziell zu starker Risikoaversion.» Experimente der Verhaltensökonomie haben gezeigt, dass ein Verlust von 1000 Franken mehr schmerzt als ein Gewinn von 1000 Franken Freude bereitet. Aus diesem Grund versuchen Anleger oftmals, Verluste um jeden Preis zu vermeiden. Die kognitive Verzerrung gehört zu den grossen psychologischen Einsichten der sogenannten Verhaltensökonomie. «Sie führt dazu, dass viele Menschen ihr Geld lieber auf dem Konto (oder unter dem Kopfkissen) horten, als an den Aktienmärkten anzulegen», sagt Geissbühler von Raiffeisen.

Die Verlustaversion zeigt sich in zweierlei Hinsicht an den Aktienmärkten: Verliereraktien bleiben im Depot und Gewinner werden zu früh verkauft - auch als Dispositionseffekt bezeichnet. Wegen der Verlustaversion sind Anleger im Gewinnbereich risikoscheu und im Verlustbereich risikofreudig. Dies mindert auf lange Sicht die Rendite. Die Verlustaversion kann ebenso dazu führen, ein Investment ständig aufzuschieben. Ein idealer Einstiegszeitpunkt wird abgewartet, um keine Verluste zu erleiden. Doch kurzfristige Schwankungen gehören an der Börse dazu. Und bei einem langfristigen Investment ist der ideale Zeitpunkt statistisch gesehen immer jetzt.

Ankereffekt - wenn der Einstandspreis am Verkaufen hindert

«Oft dient der Einstandspreis als Anker. Da Anleger Verluste ungern realisieren, werden Verliereraktien oft jahrelang im Portfolio belassen und mitgezogen – selbst wenn sich die unternehmerische Situation kontinuierlich verschlechtert», erläutert Geissbühler. Das Motto lautet dann: «Ich warte bis der Einstandspreis (Anker) wieder erreicht ist und dann verkaufe ich.» Vielen Swissair-Aktionären und jüngst auch den CS-Aktionären dürfte genau dieser Effekt im Wege gestanden haben, um sich vorzeitig von den Aktien zu trennen. Das Resultat vom Ankereffekt: Schlechte Performance und manchmal auch einen Totalverlust.   

Der Ankereffekt entfaltet seine Wirkung auch auf eine andere Weise: Warum gibt es in der Weinkarte im Restaurant oftmals sehr teure Weine? Diese weitverbreitete Verkaufsstrategie zielt darauf ab, die anderen Weine als günstig erscheinen zu lassen. Die menschliche Psyche nimmt eine bestimmte Zahl bei einem Vergleich als Referenzpunkt - diese wirkt als Anker, daher die Bezeichnung Ankereffekt. Zahlen als Referenzpunkt beeinflussen die Verhältnismässigkeiten, unter denen Investitionsentscheide getroffen werden. Am offensichtlichsten ist dies bei einem Aktiensplit. Bei diesem werden existierende Aktien in eine grössere Anzahl neuer Aktien mit einem geringeren Nominalwert umgewandelt. Von einem Tag auf den anderen erscheint die Aktie günstiger, obwohl sie dies aufgrund der Bewertung nicht ist. 

Geldwertillusion - Das problematische Denken in nominalen Grössen

Die Geldwertillusion entspringt einem weit verbreiteten «Denkfehler». Der Mensch ist es gewohnt, in nominalen Grössen zu denken. Sparer freuen sich derzeit am Zinsanstieg auf den Sparkonti. Teilweise gibt es wieder 1 Prozent und mehr. Das Problem dabei ist, dass es sich hierbei um Nominalzinsen handelt. «Bei einer aktuellen Inflation von 1,7 Prozent in der Schweiz resultiert nach Abzug der Teuerung ein negativer Realzins. Das heisst konkret, dass Geld auf dem Konto laufend an Kaufkraft verliert», sagt der Raiffeisen-Anlagechef.

Es ist ein noch grösserer Fehler, die Inflation nicht in den Investitionsentscheid mit einzubeziehen und dabei auch noch den Investitionshorizont falsch zu interpretieren. Die meisten Schweizer investieren den grössten Teil ihres Vermögens in der Vorsorge. «Eine jährliche Einzahlung in die Säule 3a nicht anzulegen ist auch ein Anlageentscheid – nämlich die aktive Wahl von Liquidität als Anlageklasse. Dabei ist das Geld der steten Wertminderung durch Inflation ausgesetzt», argumentiert Hockenjos. Stattdessen könnte über den Zeithorizont von 40 Jahren oder mehr mit einer Anlage eine ansehnliche Rendite erzielt werden. 

Spekulation und Selbstüberschätzung - Den Erfolg durch Hybris verhindern

Es eine Fehleinschätzung, dass man an der Börse schnell reich werden kann. «Die Aktienmärkte sind historisch zwischen 7 bis 8 Prozent (inklusive Dividenden) gestiegen. Das ist eine realistische durchschnittliche Langfristrendite», so Geissbühler. Geduldige und langfristig orientierte Anleger können so dank dem Zinseszinseffekt - auch als das achte Weltwunder bezeichnet - über die Zeit tatsächlich ein Vermögen anhäufen. Wer mehr will, bewegt sich im Bereich der Spekulation und geht entsprechend hohe Risiken mit entsprechenden Fallhöhen ein. Dabei besteht ein enger Zusammenhang zwischen Rendite und Risiko. Als Basis ist eine solide kurzlaufende Staatsanleihe ein guter Startpunkt. In der Schweiz rentiert der 2-jährige Eidgenosse aktuell bei 1 Prozent. Daher gilt folgende Daumenregel für den Raiffeisen-Anlagechef: «Jedes Investment, welches eine höhere Rendite verspricht, hat entsprechend höhere Risiken. Oder anders ausgedrückt: There’s no such thing as a free lunch.»

Der berühmte griechische Philosophie sagte in seiner Apologie: «Ich weiss, dass ich nichts weiss.» Wenn man heute Autofahrer fragt, ob sie zu den besten 30 Prozent gehören, antworten 80 Prozent mit «ja». Oder man halt sich schnell einmal für intelligenter als der Markt. Leider hat an der Börse immer der Markt recht.

Menschen neigen dazu, sich selbst und ihr Können zu überschätzen. Dieses Verhalten lässt sich auch auf Anleger übertragen und gehört zu den grossen Psycho-Fallen an den Finanzmärkten. Wenn eine Aktie gut läuft, schreiben sich Anleger dies ihren guten Entscheidungen zu. Entpuppt sich die Aktie als Rohrkrepierer, interpretiert der Markt die Unternehmenszahlen schlichtweg falsch. Einfach ausgedrückt: Erfolge sind Können, Misserfolge Pech.

Die Selbstüberschätzung führt bei Anlegern schnell einmal dazu, dass sie ein höheres Risiko durch beispielsweise höhere Einsätze und geringe Diversifikation einzugehen - im schlechtesten Fall durch geliehenes Geld. Viele haben auch den Wunsch, noch aktiver am Markt zu handeln. Die Intervalle zwischen Ein- und Ausstieg werden immer kürzer, da man den Markt ja richtig einschätzt - die Börsenweisheit «Hin und Her macht Taschen leer» wird ignoriert. Wegen der Selbstüberschätzung stellte Ökonomie-Professor Burton Malkiel an der Princeton-Universität in den USA bereits in den 1970er Jahren die These auf: Es sei besser, einem Affen die Augen zu verbinden und ihn mit Dartpfeilen auf Aktientitel in einer Zeitung werfen zu lassen, als einem Investmentprofi zu vertrauen. 

Von der Lust, Recht zu haben und dem konservativem Denken

«Menschen neigen dazu, Informationen, welche ihre Meinung bestätigen, stärker zu gewichten als jene, welche ihren Thesen widersprechen», sagt Hockenjos. Vielen ist dieses als Bestätigungsfehler bezeichnete Verhalten aus den sozialen Netzwerken bekannt. Facebook, Google und Co. wollen ihre Nutzer möglichst lange auf ihren Plattformen halten - dies gelingt am besten mit Inhalten, die bestätigen oder bekräftigen. Bei Anlegern treibt der Bestätigungsfehler seltsame Blüten. So wurde bei Meyer Burger beim «Investment Case» vielfach nur die Technologie und das Produkt hervorgehoben und die hohe Bewertung und die Unternehmenszahlen ausgeblendet. Oder bei einer Aktie, die man schon lange kaufen wollte, sehen Anleger nur die hohe Dividendenrendite und das niedrige KGV. Doch wahrscheinlich gibt es auch gute Gründe, warum die Aktie so günstig ist. Dem Bestätigungsfehler unterliegen Menschen immer dann, wenn sie eine festgefahrene Meinung haben, und diese sich im Zeitablauf sogar noch verstärkt. 

Oder: Stehen Anleger vor einer neuen Entscheidung, tendieren diese auch dazu, Informationen aus früheren Entscheiden herbeizuholen und neue Informationen zu vernachlässigen. Das zumindest besagt der sogenannte Konservatismuseffekt. Wer aber an seinem Vorwissen festhält und dieses nicht durch neue Erkenntnisse erweitert, wird bei Veränderungen keine fundierten Entscheide treffen können. Anlegerinnen und Anleger, welche diese Verhaltenstendenz zeigen, investieren tendenziell konservativer und reagieren verzögert auf die Trends am Finanzmarkt. Was früher als Überlebensstrategie aufging, funktioniert an den volatilen und kurzlebigen Finanzmärkten nicht: Wer heute in ein KI-Unternehmen der ersten Stunde investiert, muss sich ständig informieren, um den richtigen Zeitpunkt zum Verkauf nicht zu verpassen. Denn schon in zehn Jahren könnte ein anderes Unternehmen und nicht Microsoft oder Nvidia den Ton angeben

Selbstschutz: Damit trickst man die eigene Psyche aus

«Wichtig ist, das Bewusstsein für diese Denkfehler und Verhaltensweisen zu schärfen und sein eigenes Anlageverhalten immer wieder selbstkritisch zu hinterfragen», rät Geissbühler. Ebenfalls hilfreich ist es, sich ein konkretes Finanzziel zu setzen, einen konkreten Plan aufzustellen und diesen konsequent durchzuziehen. Zudem ist Diversifikation eine Möglichkeit, die Risiken zu verteilen und damit die Auswirkung einer einzelnen Falle einzudämmen. Es hilft, langfristige Überlegungen zu machen und bei Marktschwankungen nicht kurzfristig emotional zu handeln. «Eine auf die individuellen Bedürfnisse abgestimmte langfristige Anlagestrategie – und natürlich die entsprechende Disziplin in deren Umsetzung - ist meines Erachtens das beste Mittel, den diversen psychologischen Fallen beim Anlegen zu entfliehen», fügt Hockenjos an.

Warren Buffett soll zu den Gründen des Investitionserfolgs einmal Folgendes gesagt haben: «Der Erfolg beim Investieren hängt nicht vom IQ ab – vorausgesetzt, man hat einen Intelligenzquotienten von über 25». Glaubt man also dem «Orakel von Omaha», dann können sozusagen alle Anleger Erfolg haben., sofern sie genügend Selbstdisziplin haben, rational und systematisch handeln und nicht in die Psycho-Fallen tappen. Das stimmt positiv und bringt Anlageerfolg.

ManuelBoeck
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