Europa ist bei der Europawahl nach rechts gerückt: Die Europäische Volkspartei (EVP) behauptete zwar ihre Stellung als stärkste Fraktion im EU-Parlament. Allerdings konnten rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien in vielen der 27 EU-Staaten deutlich zulegen. Spannend wird zudem die Frage, ob EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen als Spitzenkandidatin des konservativen Parteienbündnisses EVP eine zweite Amtszeit erhält, und welche anderen Parteien sie unterstützen. Ökonomen sagten in ersten Reaktionen:

Jörg Krämer, Commerzbank-Chefökonom: «Der Euro wurde eingeführt, obwohl es noch keine politische Union gab, also ohne einen irgendwie gearteten europäischen Staat. Insofern hängt die Existenz des Euro letztlich von der Bereitschaft der einzelnen Mitgliedsstaaten ab, im Interesse des Euro zu kooperieren. Zwar dürfte es im Europa-Parlament am Ende eine ausreichende Mehrheit für den Status quo geben. Aber bei der Parlaments-Neuwahl in Frankreich, einem Kernland der EU, ist eine pro-europäische Mehrheit nicht mehr sicher. Wenn es den traditionellen, europafreundlichen Parteien immer schwerer fällt, die Wähler von ihren Positionen zu überzeugen, schwächt das grundsätzlich den Euro – auch gegenüber den anderen Währungen.»

Carsten Brzeski, ING-Chefökonom: «Die starken Verluste von Macron und der Ampel bedeuten, dass sowohl die französische als auch die deutsche Regierung handlungsunfähiger geworden sind. Noch mehr wirtschaftspolitischer Stillstand ist wahrscheinlich. Auf europäischer Ebene heisst der leichte Rechtsruck, dass die Mehrheitsbildung noch komplizierter wird.

Für die Wirtschaft bedeuten die Ergebnisse vor allem eine grosse Wahrscheinlichkeit, dass eine Vertiefung der Währungsunion erst mal im Gefrierschrank landet. Projekte wie Kapitalmarktunion, neue europäische Investitionen oder auch eine gemeinsame Industriepolitik werden jetzt eher ent- als beschleunigt. Die Gefahr einer neuen Schuldenkrise nimmt zu. Mit diesen Ergebnissen wird der Druck in vielen Mitgliedsstaaten zunehmen, um mehr Geld auszugeben. Sei es für Investitionen, sei es für Umverteilung. Da gleichzeitig keine Mehrheiten für europäischer Instrumente wie dem Wiederaufbaufonds da sein werden, ist der nächste Konflikt vorbestimmt.

Das Ergebnis der Wahl ist keine wirtschaftspolitische Zäsur, dafür ist und war Europa schon immer viel zu kompliziert und gibt es einfach zu viele Machtfaktoren. Entscheidungen gehen immer langsam und sind Kompromisse. Allerdings ist das Ergebnis definitiv kein Aufbruchssignal für die europäische Wirtschaft. Es nimmt das Risiko zu, dass Europa über zunehmende nationale Interessen im Konzert der Grossen weiter an Boden verlieren wird.»

Holger Schmieding, Chefökonom Berenberg Bank: «Die Europawahl endete wie erwartet, das Ergebnis entspricht in etwa den Meinungsumfragen. Die Parlamentswahl in Frankreich schafft dagegen erhebliche Unsicherheit über den künftigen wirtschafts- und finanzpolitischen Kurs in Frankreich. Angesichts des hohen französischen Haushaltsdefizits kann das französische Anleihen und den Euro etwas belasten. Da die Wahl bereits in drei Wochen ist, wird sich der Wahlkampf nur wenig auf die Konjunktur auswirken. Das Ergebnis könnte allerdings eine gewisse Belastung sein, falls die politische Rechte tatsächlich im Parlament stark wird.»

(Reuters)