cash.ch: Herr Keijzer, seit Sie 2021 den Posten als Clariant-CEO übernommen haben, konnten Sie die Margen in einem herausfordernden Marktumfeld halten oder steigern. Auch die Erwartungen der Analysten werden mit den Geschäftszahlen regelmässig übertroffen. Dennoch sind die Investoren weiterhin vorsichtig. Weshalb?
Conrad Keijzer: Sie erwähnten den Stimmungswandel. Ich denke, den sollten wir würdigen. Wenn Sie die Analysten berücksichtigen, die die Clariant-Aktie bewerten, raten zwölf zum Kauf. Dem gegenüber steht nur eine Verkaufsempfehlung. Das ist ein enormer Wandel im Vergleich zur Vergangenheit, und darüber freuen wir uns sehr. Ich erinnere mich an den Beginn meiner Tätigkeit Anfang 2021, als die Mehrheit der Empfehlungen aus Verkaufsratings bestand. Das spiegelt sich zwar noch nicht in der Kursentwicklung wider, aber es ist fair zu sagen, dass wir einige Altlasten hatten, die Investoren beunruhigten. Wir gehen jedoch davon aus, dass diese Themen nun hinter uns liegen. Für uns geht es jetzt darum, unsere betriebliche Leistung zu erbringen und darum, das zu halten, was wir versprechen.
Ihre mittelfristigen Ziele gelten als ehrgeizig, aber plausibel und nachvollziehbar…
Ja, die mittelfristigen Ziele sind sehr wichtig. Für dieses Jahr erwarten wir eine EBITDA-Marge zwischen 17 und 18 Prozent, wenn man Sondereffekte herausrechnet. Im Vergleich zum Vorjahr ist das eine Verbesserung von fast 200 Basispunkten. Der Umsatz in lokalen Währungen sollte zwischen 3 und 5 Prozent wachsen. Mit dieser Erfolgsbilanz sind wir auf dem besten Weg, die mittelfristigen Ziele von 19 bis 21 Prozent EBITDA-Marge und 4 bis 6 Prozent Umsatzwachstum pro Jahr bis spätestens 2027 zu erreichen. Betrachtet man die Zusammensetzung dieses EBITDA-Wachstums, stammen etwa zwei Drittel aus Wachstumskomponenten und etwa ein Drittel aus Effizienzsteigerungen. Diese Zusammensetzung gibt uns das Vertrauen und die Glaubwürdigkeit, dass wir diese Zahlen liefern können – selbst in einem schwierigen Umfeld.
Sind diese Ziele angesichts der jüngsten geopolitischen Entwicklungen in den USA, der EU und dem Rest der Welt noch plausibel?
Zweifellos haben Zölle negative Auswirkungen auf das Geschäft und das Wirtschaftswachstum. Vor einiger Zeit haben wir eine Task-Force zu Zöllen eingerichtet, die globale Warenströme - sowohl Fertigprodukte als auch Rohstoffe - und deren Risikobewertung analysiert. Unternehmen mit stärker zentralisierten Produktionsprozessen sind besonders anfällig, und das sind oft kleinere Akteure in unserer Branche. Daher gibt es Spekulationen wegen einer weiteren Konsolidierungswelle in der Chemieindustrie. Der direkte Einfluss dieser Zölle auf Clariant ist jedoch begrenzt. Mit 71 Produktionsstandorten weltweit produzieren wir in der Regel in einem Land für ein Land.
Antizipieren Sie politische Entwicklungen also proaktiv?
Ja, genau. Was die Situation in den USA anbelangt, so hat die Analyse gezeigt, dass im Bereich der Pflegechemikalien, unserem grössten Geschäftsbereich in den Vereinigten Staaten, mehr als 90 Prozent der Produkte, die wir vor Ort verkaufen, auch dort produzieren.
Erwarten Sie, dass die 25 Prozent-US-Zölle für Europa in Kraft treten?
Wir arbeiten mit Szenarien und schliessen derzeit nichts aus. Aber wir sind sehr gut aufgestellt, falls Zölle in Kraft treten sollten.
Einige Analysten meinen nun, dass Clariant sich zu einer attraktiveren Investmentstory wandelt, mit dem neu ausgerichteten Portfolio mit besseren Umsatz- und Rentabilitätsteigerungen. Können Sie einen Überblick über die strategischen Eckpunkte geben?
Die wichtigsten strategischen Bereiche basieren auf unserem Unternehmenszweck. 2021, nach einer Phase der Schrumpfung, stellten wir uns die Frage, wie wir das Unternehmen wieder auf Wachstumskurs bringen können. Unsere Kernstärke ist Innovation – insbesondere im Bereich Nachhaltigkeit. Wir investieren mehr als unsere Wettbewerber in Innovation. Dies ist einer der Gründe, warum wir organisch stärker wachsen können als unsere Mitbewerber. Eine weitere Stärke ist die Unterstützung unserer Kunden bei der Verbesserung ihrer Rentabilität. Ich kann Ihnen zwei Beispiele nennen: Im Katalysator-Geschäft verbessert ein Katalysator entweder die Ausbeute eines chemischen Prozesses oder senkt die Prozesstemperatur. Neben produktspezifischen Vorteilen hat dies auch finanzielle Nutzen für unsere Kunden. Die Verringerung des CO2-Fussabdrucks ist dabei ein positiver Nebeneffekt - je nach Branche mehr oder weniger wichtig. Ein weiteres Beispiel sind Flammschutzmittel: Clariant hat das einzige Produkt, das bei einem Kurzschluss in einem Elektrofahrzeug über 800 Volt funktioniert. Wenn Sie in einen Unfall verwickelt werden, möchten Sie nicht, dass Ihr Auto in Flammen aufgeht. Dank unserer Innovationskraft können wir unseren Kunden solche Lösungen anbieten. Diese beiden Wettbewerbsvorteile ermöglichen ein überdurchschnittliches Marktwachstum.
Ein wichtiger Teil der mittelfristigen Ziele sind Kosteneinsparungen und disziplinierte Investitionen. Was bedeutet das für die M&A-Aktivitäten?
Wir planen keine gross angelegten Übernahmen. Unser Ziel sind kleinere, ergänzende Akquisitionen, die unsere Kernsegmente stärken. In dieser Richtung bleiben wir weiterhin an potenziellen Übernahmezielen sehr interessiert.
Einige Experten erwarten im Laufe dieses Jahres eine Erholung einiger Ihrer wichtigsten Märkte. Doch haben Sie kürzlich Ihren Ausblick für 2025 leicht nach unten korrigiert. Wann erwarten Sie eine Verbesserung der Kernmärkte?
Im Katalysator-Geschäft sehen wir noch keine echte Verbesserung. In China gab es eine beispiellose Kapazitätserweiterung, die zu Überkapazitäten geführt hat. Wir gehen aber davon aus, dass sich die Situation nicht weiter verschlechtert und wir einen Boden erreicht haben. Im Bereich «Adsorbents & Additives» zieht die Industrieproduktion an. Die Konsumnachfrage scheint ebenfalls wieder zu steigen - unterstützt durch niedrigere Zinssätze. Ausserdem ist das Wachstum auf den Märkten für erneuerbare Kraftstoffe intakt und die Prognosen für das kommende Jahr für die Reinigung von Flugkraftstoffen sind sehr gut. Einzig der Automobilsektor war rückläufig. Insgesamt verbessert sich aber das Marktumfeld. Erste Anzeichen waren bereits im vierten Quartal 2024 sichtbar. Wir konnten ein Gruppenwachstum von 5 Prozent in lokalen Währungen vorweisen.
BASF und TotalEnergies haben kürzlich Klagen gegen mehrere Unternehmen, darunter Clariant, eingereicht. Sie weisen die Vorwürfe zurück und haben keine Rückstellungen gebildet. Wie hoch sind die Forderungen gegen Clariant, und wann erwarten Sie ein Ende des Verfahrens?
Wir haben keine Rückstellungen gebildet, da wir stichhaltige Beweise dafür haben, dass das Kartell keinen Einfluss auf die Ethylenpreise hatte. Daher sehen wir kein finanzielles Risiko aus diesen Klagen. Die Klage von BASF beläuft sich auf insgesamt 1,4 Milliarden Euro, die von Total auf 625 Millionen Euro und die von Shell aus dem Jahr 2023 auf 1 Milliarde Euro. Die Klagen gehen gegen alle vier Konzerne und spezifizieren daher keine Beträge pro Unternehmen. Zur Dauer des Verfahrens können wir keine Prognose abgeben, da zum Beispiel der Shell-Fall aus dem Jahr 2023 noch läuft. Sollten die Gerichte wider Erwarten zu unseren Ungunsten entscheiden, müssten sich die vier beteiligten Firmen in weiteren Verfahren untereinander auf die Höhe der zu zahlenden Beträge einigen.
Clariant muss einen neuen Käufer für den Industriepark Fechenheim in Frankfurt finden. Erwarten Sie, dass der Industriepark in diesem Jahr zum gleichen Wert verkauft wird?
Über die Bewertung machen wir uns keine Sorgen, da es ein starkes Interesse für diesen Standort gibt. Gleichzeitig handelt es sich nicht um einen Notverkauf. Wir müssen dieses Jahr nicht verkaufen. Da es sich um einen bedeutenden Wert für das Unternehmen handelt, werden wir uns die Zeit nehmen, die nötig ist, um das bestmögliche Resultat zu erreichen.
Fast 32 Prozent der ausstehenden Aktien von Clariant werden vom Public Investment Fund aus Saudi-Arabien gehalten. Vor Jahren sollten Teile von Clariant und dem Chemiekonzern Saudi Basic Industries fusioniert werden. Daraus ist nichts geworden. Welche Ziele verfolgen die Saudis mit der Beteiligung heute?
SABIC hat eine langfristige Vision für seine Investitionen. Im Gegensatz zu früheren Strategien, die auch grössere Transaktionen umfassten, unterstützen sie den derzeitigen Schwerpunkt auf organisches Wachstum, kleine Ergänzungsakquisitionen und Margenverbesserungen voll und ganz. Ausserdem schätzen sie die Verbesserung der operativen Leistung des Unternehmens in den letzten Jahren sehr.
Was ist Ihrer Meinung nach eine angemessene Bewertung für Clariant?
(lacht) Sagen wir es mal so: Die Analysten haben eine gute Vorstellung davon.
Was hindert eine höhere Unternehmensbewertung?
Abgesehen vom europäischen Automobilsektor sind wir der am wenigsten geschätzte Sektor für Investoren. Es gibt keine nennenswerten Käufe. Der Chemiesektor ist jedoch immer ein Frühindikator für Konjunkturzyklen. Und im Moment ist die Industrieproduktion rückläufig. In dem Moment, in dem Chemietitel wieder etwas mehr in der Gunst der Anleger steht, in dem Moment, in dem sich die Bedingungen leicht verbessern und der Markt sich erholt, wird man wissen, dass sich der Konjunkturzyklus erholt. Und dann werden die positiven Effekte des verbesserten operativen Hebels, an dem wir in den letzten Jahren gearbeitet haben, ihre volle Wirkung entfalten.