Im letzten Jahr wuchs Chinas Bruttoinlandprodukt 6,9 Prozent. Doch was für die Schweiz - und auch die meisten anderen westlichen Länder - ein Traumwachstum fern jeglicher Realität wäre, ist aus chinesischer Sicht eine Enttäuschung. Seit 25 Jahren war das Wachstum nie mehr so gering.
Doch damit nicht genug: Hinter die chinesischen Wachstumszahlen wird immer wieder ein grosses Fragezeichen gesetzt. Während viele dies wegen mangelnder Beweise nur hinter vorgehaltener Hand aussprechen wollen, nimmt der Ökonom Robert Wescott klar Stellung: "Chinas Wachstumszahlen stimmen niemals." Er sagte dies am Mittwoch an einer Veranstaltung des Vermögensverwalters Pioneer Investments in Zürich.
Die etwas andere Auffassung von Statistiken
Das wahre Wachstum in China sieht Wescott "substanziell unter 6,9 Prozent, vielleicht etwa halb so hoch." Der Grund für die massive Abweichung sei die völlig andere Auffassung von Statistiken in China. Dort würden nicht Daten gesammelt, um dann das Wachstum zu ermitteln, sondern umgekehrt würde ein Wachstum vorgegeben, für welches dann die "richtigen" Daten genommen werden müssten, um auf das gewünschte Wachstum zu kommen.
Robert Wescott ist Mitglied des Investment-Beirats für Asset Allocation bei Pioneer Investments und Präsident von Keybridge, einer von ihm gegründeten Research-Firma in Washington D.C. Ausserdem war er Wirtschaftsberater des ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton und davor in leitender Stellung beim Internationalen Währungsfonds (IWF) tätig. In seinen bisherigen Funktionen war er mehrmals mit den chinesischen Behörden in Kontakt.
Egal ob man nun den offiziellen Wachstumsdaten in China Vertrauen schenkt oder nicht, für dieses Jahr scheint sich so oder so eine weitere Konjunkturverlangsamung anzubahnen. Der monatliche chinesische Einkaufsmanagerindex für das verarbeitende Gewerbe zeigt seit März 2015 ununterbrochen Werte unter 50 an, was auf eine rückläufige Industrie hindeutet. Auch die Exporte fielen im Dezember 2015 den sechsten Monat in Folge.
"China hat chronische Überkapazitäten", so Wescott. Die Kapazitätsauslastung in der Schwerindustrie, zu welcher etwa die Stahl-, Zement- und Eisenproduktion zählt, betrage ungefähr zwei Drittel. Mit diesen unausgelasteten Produktionsvermögen trage China entscheidend zur globalen Wachstumsverlangsamung bei.
Abkühlung, aber keine Rezession
Reicht das, um den Westen in die Rezession zu stürzen? "Nein", meint Wescott, "das Wachstum verlangsamt dadurch jedoch in den USA und in Europa um ungefähr 0,5 Prozent." Das sei für die USA, wie auch für Europa in einem tragbaren Rahmen. In diesen Prognosen Wescotts sind jedoch nur die direkten Effekte, die durch Exportrückgänge nach China und in die Schwellenländer entstehen, enthalten.
Hinzu kommen noch indirekte Faktoren, deren Einfluss auf die Wirtschaftsentwicklung unklarer ist. Etwa der tiefere Ölpreis, welcher Ölfirmen schadet, aber Konsumenten Vergünstigungen beschert und dadurch den Konsum anfeuert. Aber auch der Vermögensverlust durch sinkende Aktienkurse, Deflationsängste oder die generell gesunkenen Rohstoffpreise spielen auf indirektem Weg mit ein.
Zwar sind viele andere Experten wie Wescott der Ansicht, dass Chinas Wirtschaftsdaten nicht korrekt sind, doch gibt es auch abweichende Meinungen. So etwa Victor Chu, CEO der First Eastern Investment Group in Hongkong. "Ich glaube, die heutigen Zahlen stimmen mehr oder weniger", sagte er kürzlich in einem Interview mit cash. Die chinesischen Wachstumszahlen seien heute viel differenzierter als noch vor 15 Jahren.